Im November 1903 wurde in Sindelfingen das Gaswerk in Betrieb genommen
Am 29. November 1903 wurde in der Sindelfinger Bahnhofstraße ein Gaswerk in Betrieb genommen. Damit wurde eine Lücke in der Energieversorgung der Haushalte geschlossen. Elektrizität wurde erst fünf Jahre später eingeführt – in dem Jahr, in dem auch Böblingen an das Sindelfinger Gaswerk angeschlossen wurde, das für einige andere Städte in der Region zum Vorbild wurde.
Schon Jahre zuvor war die Frage nach „mehr Licht“ aufgekommen. Im Jahr 1859 wurde zunächst beschlossen, eine Straßenbeleuchtung einzuführen. Da Esslingen in diesem Jahr eine Gasbeleuchtung installierte, kaufte Sindelfingen den Zwiebelstädtern die überflüssig gewordenen Petroleumlampen, 15 an der Zahl, ab. Bis die Sindelfinger es den Esslingern gleichtun sollten, mussten noch 44 Jahre vergehen.
Überlegungen schon Jahre zuvor
1887 hatte ein Ingenieur der Gemeinde einen Antrag unterbreitet, die Stadt mit Gas zu versorgen. Als die Gemeindevertretung um eine Konkretisierung der Pläne bat, verlief die Sache jedoch im Sande. Schon vier Jahre später gelangte das Thema wieder in die Gremien. Böblingen und Sindelfingen schlossen sogar einen Vertrag über die Errichtung eines gemeinsamen Gaswerkes. Da aber beide Gemeinden nicht bereit waren, die finanzielle Beteiligung im Voraus zu garantieren, scheiterte das Projekt. Auch die Unternehmen in den beiden Städten waren nicht bereit, in die Bresche zu springen: Es gab einfach nicht genügend Abnehmer.
In der Folgezeit wurde immer wieder die Energiefrage erörtert. Doch ob Strom oder Gas: Das Vorhaben scheiterte stets an mangelhaften Rentabilitätsaussichten. Noch im Jahr 1900 lehnte der Sindelfinger Gemeinderat die Einrichtung eines eigenen Elektrizitätswerkes ab, weil es keine wirtschaftlichen Erfolgsaussichten besitze. Manche Fabriken hatten zur Eigenversorgung mit Dampf betriebene Elektrizitätswerke errichtet und dabei, wie Wilhelm Hörmann bei der Einweihung des Gaswerkes am 16. Januar 1904 sagte, „ein blaues Auge davongetragen“. Auch das in der Zwischenzeit errichtete Elektrizitätswerk in Böblingen führe „einen schweren Kampf ums Dasein“.
Obwohl das Werk schon im November 1903 in Betrieb ging, fand die Einweihung erst im Januar 1904 statt. (Bild: Anzeige in der Sindelfinger Zeitung)
Mehr Arbeit in den Abendstunden
Doch die Verhältnisse änderten sich schnell. Zunehmende Arbeit in den Abendstunden ließen den Ruf nach „Mehr Licht“ immer lauter werden. Schultheiß Hörmann im Rückblick: „In der gemütlichen früheren Zeit, wo der Verkehr nur wenig entwickelt war, wo noch nicht so viele feine gewerbliche Schreibarbeit bei Licht zu verrichten war, wo nicht vor dem Zubettgehen noch die Zeitung gelesen werden musste, und wo die Ansprüche im Allgemeinen eben noch bescheidenere waren und die Leute mehr fein hübsch zu Hause blieben und zeitig zu Bett gingen, war das Bedürfnis nach Licht noch kein so großes, und es mag für diese Verhältnisse der Kienspan oder die Öllampe oder das Talglicht genügt haben.“
In den zwölf Jahren seit 1891 hatten sich auch die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten für ein Kraftwerk erheblich verbessert. In Sindelfingen entschied man sich für Gas, wegen der deutlich geringeren Kosten, obwohl der Elektrizität eine höhere Bequemlichkeit zugebilligt wurde. Nachdem Hörmann die Sache in die Hand genommen hatte, waren schon bald mehrere Firmen gefunden, die das Gaswerk ohne jegliche Garantie oder Beteiligung seitens der Gemeinde errichten wollten. Schon sieben Tage nach dem Beschluss am 15. Mai 1903, ein Gaswerk zu errichten, hatte sich eine Kommission auf den Weg nach Säckingen gemacht, um von dort aus mehrere Gaswerke zu besichtigen.
Die Wahl fiel schließlich auf die Bremer Firma Carl Francke. Die Stadtgemeinde sollte sich mit 60 Prozent an der Aktiengesellschaft beteiligen, um sich, wie Wilhelm Hörmann später ausführte, „einen maßgebenden Einfluss auf den Betrieb zu sichern und die spätere Übernahme in städtischen Besitz zu erleichtern“.
Leuchtkraft „allgemein bewundert“
Danach ging alles sehr schnell. In weniger als einem halben Jahr errichtete die Firma Francke in der Bahnhofstraße für 175.000 Mark ein Kraftwerk, in dem Steinkohle vergast wurde. Bereits am Abend des 29. Novembers wurden die ersten Straßenlaternen mit Gasbeleuchtung in Betrieb genommen. „Das Licht zeigt eine intensive Leuchtkraft und wurde allgemein bewundert; vereinzelt brannten noch neben dem Gaslicht Petroleumlampen, durch welche der große Unterschied zwischen Petroleum und Gas veranschaulicht wurde und den Fortschritt in der Beleuchtung erkennen ließ. Die Klagen über schlechte Straßenbeleuchtung werden nun verstummen“: So euphorisch lobte die Sindelfinger Zeitung am 2. Dezember 1903 die neue Errungenschaft.
Noch waren nicht alle Haushalte angeschlossen. Doch die Installation ging zügig voran. Dies verdeutlicht die erste Jahresbilanz des Gaswerks Ende 1904. Waren im Dezember 1903 neben 95 Straßenlaternen noch 185 Gasmesser angeschlossen, durch welche 450 Privatflammen, 39 Kocher und fünf Motoren gespeist wurden, waren es ein Jahr später bereits 441 Gasanschlüsse mit 1137 Privatflammen, 140 Kochern und sechs Motoren. Auch zeigte sich, dass das Gaswerk wirtschaftlich arbeitete. Immerhin blieb ihm ein Gewinn von 238,74 Mark übrig.
Der Erfolg des Sindelfinger Gaswerks wurde über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Immer wieder tauchten in der Bahnhofstraße Besuchergruppen aus anderen Gemeinden auf. In den folgenden Jahren wurden auch hier im Bezirk weitere Gaswerke gebaut. Bereits im Juli 1904 wurde das Herrenberger Gaswerk eröffnet. Am 1. November 1905 nahm die Renninger Gaszentrale ihren Betrieb auf.
Vertrag mit Böblingen
Auch Böblingen liebäugelte mit einem eigenen Gaswerk. Doch dazu kam es nicht. Statt dessen wurde im Juni 1908 ein Vertrag mit Sindelfingen abgeschlossen, der die Beteiligung Böblingens am dortigen Gaswerk regelte. Zur Versorgung beider Städte war das Werk jedoch schon zu klein geworden. Es musste für 157.000 Mark erweitert werden. Im gleichen Jahr wurde Sindelfingen an die Überlandzentrale der Elektrischen Kraftübertragung für den Raum Herrenberg angeschlossen, die im Jahr zuvor ihren Betrieb aufgenommen hatte. Damit waren beide Städte mit Strom und Gas versorgt.
Bis zum Jahr 1928 lieferte das Werk Gas für die beiden Städte. Dann wurde es stillgelegt, da sich solche kleineren Anlagen kaum noch rentierten. Sindelfingen bezog von nun an Gas von Stuttgart. Dorthin wurde das stillgelegte Gaswerk dann auch im Jahr 1933 verkauft, womit ein Stück Sindelfinger Industrialisierungsgeschichte zu Ende ging.
Erstveröffentlichung: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag, Sindelfingen 1999, S. 14-15.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Literaturhinweis
Wolfgang Burr: Die Anfänge der öffentlichen Energieversorgung in Sindelfingen. In: Jahrbuch der Stadt Sindelfingen 1969, S. 410ff.