Sindelfingen im 3. Reich
Machtergreifung und Gleichschaltung des Gemeinderats
Autoren: Schülerarbeitsgruppe der Klasse 12 am Goldberg-Gymnasium Sindelfingen
Am 12. April 1933 verkündete das württembergische Staatsministerium das Gesetz über die Neubildung der Gemeinderäte. Es bedeutete die Abschaffung des frei gewählten Gemeinderates und damit das Ende der Demokratie auf kommunaler Ebene. (… )
Während der ersten Wochen nach dem 30. Januar 1933 hatte die Regierung Hitler illegale Schritte möglichst vermieden. Solange die Nazis nicht fest im Sattel saßen, scheuten sie vor offenen Gesetzesbrüchen zurück. Deshalb änderte sich an der „politischen Oberfläche“ in Deutschland zunächst nicht sehr viel; das gilt auch für Sindelfingen, wo außer einem Marsch der NSDAP am 26. Februar und einer Gegenkundgebung von SPD und Eiserner Front“ am gleichen Tag (…) zunächst nichts Besonderes passiert war. Die Nazis waren also auf eine Provokation angewiesen, um den gewünschten Weg in die Diktatur zu beschleunigen.
Am 27. Februar brannte der Reichstag, schon am folgenden Tag erließ Reichspräsident Hindenburg die Notverordnung “Zum Schutz von Volk und Staat“ – wobei der „Schutz des Volkes“ darin bestand, dass ihm seine Grundrechte (Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung und der Person …) genommen wurden. Mit diesem 28. Februar hatte Hindenburg der NSDAP die Tür zur Diktatur weit geöffnet. Die ersten Opfer der Terrorwelle, die unmittelbar danach einsetzte, waren die Kommunisten, für die sowieso niemand einen Finger rührte (am 1. März verbot das Oberamt Böblingen sämtliche kommunistischen Druckschriften und Versammlungen), und bald darauf kamen die anderen an die Reihe. Am 8. März enthob Reichsinnenminister Frick die württembergische Regierung Eugen Bolz (Zentrum) ihres Amtes und setzte den Nationalsozialisten v. Jagow als Reichsbeauftragten ein; am 15. März wählte der württembergische Landtag (die kommunistischen Abgeordneten waren schon verhaftet) den NSDAP-Gauleiter Murr zum Staatspräsidenten. Damit war die Demokratie in Württemberg erdrosselt worden, ohne dass ihr jemand wirkungsvoll zur Hilfe gekommen wäre.
Konnte sich eine kleine Stadt wie Sindelfingen dieser Entwicklung entgegenstellen? Immerhin war Sindelfingen zu diesem Zeitpunkt alles andere als eine Nazi-Stadt, wie sich auch an der Zusammensetzung des Gemeinderats zeigte (die eine Hälfte war 1928 gewählt worden, die andere 1931):
1928
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1931
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zus.
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KPD |
1
|
1
|
2
|
SPD |
3
|
3
|
6
|
Freie Wähler |
2
|
2
|
4
|
DDP |
3
|
2
|
5
|
NSDAP |
0
|
1
|
1
|
Von 18 Gemeinderäten war also gerade einer Nazi, und auch die Wahlen vom 5. März 1933 hatten der NSDAP gerade 33 % der Stimmen gebracht (im gesamten Reich waren es 11 % mehr). Die demokratische Substanz war in Sindelfingen weitgehend erhalten geblieben. Dennoch blieb die Stadt von der gesamten Entwicklung nicht verschont.
Am 8. März marschierte die örtliche SA von Böblingen kommend zum Sindelfinger Rathausplatz. Die Hakenkreuzfahne flatterte bereits über dem Rathaus, und Kreisleiter Studienrat Luib hielt eine feurige Ansprache, bei der er – wie die Sindelfinger Zeitung berichtete – um „die Seele des schaffenden Deutschen warb.“ Weiter … erhob [er] gegen seinen Intimfeind, Landrat Rüdiger, derartig scharfe Beschuldigungen, dass der noch am gleichen Tag ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst beantragte.
Zwei Tage nach diesem Vorfall wurde auch die Sindelfinger SA durch Regierungsbeschluss zur Hilfspolizei gemacht. Die örtlichen Parteien, die noch einige Betätigungsmöglichkeiten hatten (es waren ja nur die KPD-Versammlungen verboten) unternahmen nichts gegen diese Verhöhnung von Recht und Demokratie. Die stärkste Partei in Sindelfingen war die SPD. Vielleicht hatte sie gehofft, durch Stillhalten die Nazis freundlicher zu stimmen, aber das Gegenteil trat ein: Am 13. März wurden die sozialdemokratisch geführte “Eiserne Front“ und das republikanische “Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ verboten. Damit war auch die SPD kaum noch handlungsfähig. (…)
Alles weitere verlief dann ziemlich rasch. Am 22. März fand ein Fackelzug von Böblingen und Sindelfingen aus in Richtung Goldberg statt; die Polizisten, die den Zug begleiteten, trugen bereits die Hakenkreuzbinde. Umgeben von einer “vieltausendköpfigen Menge“ (Sindelfinger Zeitung, 23. 3. 33) brannten auf einem Scheiterhaufen eine Reichsbanner- und eine Sowjetfahne. Kreisleiter Luib und ein Vertreter des Stahlhelm hielten Reden, zum Schluss wurde das Horst-Wessel-Lied gesungen. Anlass des Spektakels war die Reichstagseröffnung in Berlin. Die Legislaturperiode dieses letzten, von konkurrierenden Parteien getragenen Reichstages begann mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes (23. März). das die Gesetzgebung an die Regierung übertrug und den Reichstag zu einem bloßen Zustimmungsorgan herabsetzte. (…)
Die Wirkung der totalen Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde in Sindelfingen bald spürbar. Am 24. März wurde Kreisleiter Luib zum Unterkommissar für die Oberämter Böblingen und Leonberg ernannt; damit war er Beauftragter des Innenministers. In dieser Eigenschaft verfügte er gleich am 25. März, dass die kommunistischen Gemeinderäte nicht mehr zu den Sitzungen einzuladen seien. Am 28. März wurde den beiden kommunistischen Gemeinderäten in Sindelfingen ihr Amt entzogen – ein Eingriff, auf den der Gemeinderat bei seiner Sitzung am 30. März keine Reaktion zeigte.
Einen Tag später wurde er selbst durch ein Reichsgesetz aufgelöst, Bürgermeister Pfitzer übernahm vorläufig die Geschäfte des Gemeinderats. Am 1. April schrieb die Sindelfinger Zeitung: “Der Monat April, der nun heraufzieht, wird in Deutschland neue politische Bewegung auslösen, die bis ins kleinste Dorf geht. Das Gleichschaltungsgesetz, das dieser Tage erscheinen soll, wird bestimmen, dass die Volksvertretungen der Länder mit Ausnahme des preußischen Landtags aufgelöst und neugebildet werden nach den Stimmzahlen der Reichstagswahl vom 5. März. Auch die gemeindlichen Selbstverwaltungskörper werden aufgrund dieser Schlüsselzahlen umgestaltet. Wenn dann die politischen Mächte in Reich, Land und Gemeinden politisch neugerichtet sind, besteht eine überaus starke und klare Führung der Kräfte aller Instanzen.“
Am 12. April erließ die württembergische Staatsregierung das Gesetz, das die Anpassung der Gemeinderäte an die neuen Machtverhältnisse regelte. Die “Wahl“, von der im Gesetz die Rede war, war reine Farce: Die künftige Sitzverteilung war durch die Reichstagswahlen vorbestimmt; die einzelnen Listen durften nur eineinhalbmal so viele Bewerber aufstellen, wie ihnen Sitze zustanden – und schließlich wurde die Wahl“ nicht von der Bevölkerung getroffen, sondern vom Bürgermeister und zwei Beisitzern.
Am 19. April wurden die Sindelfinger Parteien (mit Ausnahme der KPD) aufgefordert, bis zum 25. April Wahlvorschläge einzureichen. Es kamen jedoch nur zwei Wahlvorschläge zustande, weil die SPD sich nach einem Versammlungsverbot durch Bürgermeister Pfitzer am 24. April selbst aufgelöst hatte und die liberale DDP spurlos von der politischen Bildfläche Sindelfingens verschwunden war. Der neue Gemeinderat wurde am 4. Mai eröffnet. In Sindelfingen, das die NSDAP in seiner überwiegenden Mehrheit abgelehnt harte, waren jetzt elf von zwölf Gemeinderäten Nazis oder ihnen Nahestehende. (…)
Erstveröffentlichung: Die Macht-Ergreifung in Sindelfingen 1933, Röhm-Verlag, Sindelfingen 1983, S. 13-17.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung von Michael Kuckenburg