Nachruf auf eine schon fast ausgestorbene Species
Der IBMer
Autor: Erich Kläger
Es gibt ihn noch, in vielfacher Ausgabe sogar, doch in jener, die hier gemeint ist, gehört er schon seit geraumer Zeit der Vergangenheit an; man kann auch sagen, der hier gemeinte ist bereits Geschichte geworden als Teil einer Entwicklung, die über ihn hinweggegangen ist. Ein Nachruf also?
In gewisser Weise schon. Warum fällt uns nur an dieser Stelle das lateinische: “De mortuis nil nisi bene“ ein? Also: Über Tote soll man, wenn überhaupt nur Gutes sagen. Um endlich vorläufige Klarheit zu schaffen: Wir reden von… Da stocken wir schon wieder. Sollen wir sagen, (etwas humanistische Bildung bemühend, die seiner technoiden Hybris trotzen soll): wir reden von einer „Species sui generis“?, von einer Gattung “eigener Art“? Sagen wir es endlich direkt: Sie lebten unter uns und waren doch wie von einem anderen Stern, (in jedem Falle aus einer anderen Welt!).
Dies ist heute in einer Welt (scheinbarer) gesellschaftlicher Einebnung/Egalisierung schwer zu erklären und war zu Lebzeiten doch so einfach zu realisieren. Man konnte ihn auch unter einer größeren Ansammlung die sprichwörtlichen “zehn Meter gegen den Wind“ ausmachen, besonders sommers, wenn sich unsereiner kleidermäßig Erleichterung verschaffte, gestattete er sich äußerstenfalls insofern eine Nachlässigkeit, als er sein Jackett/seinen Kittel auf der Schulter trug und sich damit in dem zeigte, was ihn und seinesgleichen spezifisch uniformierte: ein blütenweißes Hemd! Dieses am Hals mit Binder/Schlips/Krawatte festgezurrt.
Daß er sich für etwas Besonderes hielt, meinte nur seine Umgebung, er selbst war ein Besonderer, gehörte zwar zu IBM Deutschland, seinem Habitus nach, hier als geistiger wie als gewandmäßiger verstanden, stammte er aus Endicott/New York bzw. Armonck/USA. Dorthin (und an IBM-Standorte „all over the world“) wurde er mindestens einmal in seiner Zugehörigkeit zur Firma für einige Monate, teils auch Jahre, geholt, ein Wechsel, der ihm mindestens mentalitätsmäßig keine Umstellungsschwierigkeiten bot, hatte er sich doch schon in Deutschland ganz die „Corporate Identity“ internalisiert (innerlich angeeignet), ein Fremdwort, das einen komplexen Sachverhalt umschreibt und doch nur einfach meint, daß man sich mit allem (bis ins Private hinein) als Teil des Unternehmens fühlt und dessen Philosophie übernimmt; dies hatte der IBMer, den wir hier meinen, im Extrem schon verkörpert, noch ehe der Begriff zu einem modischen Schlagwort wurde.
Thomas J. Watson sen. (1874-1956) herrschte 40 Jahre lang über das Imperium der IBM. Unter seiner Führung entwickelte die IBM eine ganz besondere Unternehmenskultur. (Bild: IBM Archiv / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0)
Sozial ging das Unternehmen für deutsche Verhältnisse einen revolutionären Schritt voran, als es nur ein Anstellungsverhältnis kannte, das des Angestellten und auf diese Stufe auch jene hob, die einfacheren Verrichtungen nachgingen, nun aber unter der Bezeichnung: Operator. Auch auf höherer Ebene (und von dieser aus nach unten) sprach man sich mit dem Vornamen an, blieb aber im übrigen beim „Sie“.
Sozial war der IBMer insofern für die Gesellschaft der Stadt ein Problem, als Böblingen für ihn oft nur Durchgangsstation auf seiner steilen Laufbahn war, er sich deshalb auch nicht darauf einrichtete, hier Wurzeln zu schlagen und sich gesellschaftlich zu integrieren. Viele wurden gleichwohl seßhaft und engagierten sich auch außerhalb des IBM-Clubs, der auch ein eigenes Freizeitangebot (samt Weihnachtsfeiern für die ganze Familie) bereithielt.
Das Unternehmen wirkte sich nicht nur durch sein hohes Gewerbesteueraufkommen segensreich für die Stadt aus, auch das wachsende Angebot an Arbeitsplätzen wurde von einheimischen Böblingern genutzt, die hier exzellente Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten vorfanden. Wohl kamen zahlreiche hochqualifizierte Fachleute von außen, doch selbst höchste Positionen wurden von „Eingeborenen“ besetzt; erinnert sei an Professor Karl Ganzhorn aus Sindelfingen, der lange Zeit Leiter des Forschungslabors auf dem Schönaicher First war. Auch wenn bald fast jeder einen PC auf dem Schreibtisch stehen hatte, haben wohl nur wenige realisieren können, welch außerordentliche Forschungsleistung auf dem Schönaicher First erbracht wurde. Niemals in der Geschichte zuvor ging von Böblingen ein Beitrag von dieser Bedeutung zur wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, ja der westlichen Welt aus! Von denen, die diese Leistung erbrachten, wurde das Letzte an geistigem und persönlichem Einsatz gefordert, bis an die Grenze der Belastbarkeit (und manchmal auch darüber hinaus).
Warum wir den hier gemeinten IBMer als historische Figur behandeln, will erklärt sein: Vermutlich ging die Entwicklung zu seinem Wandel wiederum von den USA aus und von dem Umstand, daß das Unternehmen seine Vormachtstellung auf dem Weltmarkt angefochten sah. Darauf reagierte die IBM mit einem Innovationsschub, der auch die Einsicht zur Voraussetzung hatte, daß eine Lockerung der bisher asketischen Corporate Identity“ durchaus dazu geeignet war, zusätzliches kreatives Potential zu entfalten. Die gesellschaftliche Umwelt nahm bald wahr, daß dies den Habitus des IBMers auffallend veränderte, wiederum geistig wie äußerlich. Gewiß, noch immer sagt die Gattin des einen, “mein Mann schafft beim Daimler“, auch wenn er dort eine höhere Position inne hat, und die andere “mein Mann ist bei IBM“, auch wenn er niemand hat, der verpflichtet ist, ihm “zu berichten“, wie man Über- und Unterordnung in Großunternehmen heute vornehm umschreibt. Im übrigen aber, weiß der Leser aus eigener Erfahrung, ist der IBMer von heute ein Nachbar wie der von HP und jeder andere.
Quelle: Böblingen Geschichte in Gestalten. Von den Anfängen bis zum Ende der Ära Brumme, Ameles Verlag, Böblingen 2003, S. 603-604
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
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