Zur Geschichte der Juden in Weil der Stadt
Autor: Wolfgang Schütz
Am 9. November 1998 jährte sich zum sechzigsten Mal eines jener düsteren Ereignisse unserer jüngeren Geschichte: die sogenannte „Reichspogromnacht“, von der nationalsozialistischen Propaganda mit dem zynischen Euphemismus „Reichskristallnacht“ bezeichnet. Das Attentat des Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris, vom Rath, hatte Goebbels als willkommener Vorwand gedient, im gesamten Reichsgebiet angeblich spontane Ausschreitungen und Brandanschläge gegen jüdische Kulteinrichtungen, Geschäfte und Wohnhäuser zu organisieren. Mit diesen direkten Willküraktionen begann eine neue Phase der Judenverfolgung, die schließlich in den Vernichtungslagern endete.
Wir wollen dieses Datum zum Anlass nehmen, zum ersten Mal wieder seit 1982 in diesen Blättern an die Geschichte der Weiler Juden zu erinnern. Damals, im Januar und März 1981, gedachte man in Weil der Stadt des Rabbiners Jakob Ben Jehuda Weil und der 700. Wiederkehr der ersten urkundlichen Erwähnung der Weiler Judengemeinde. Seither erschien das Thema nur noch einmal kurz auf dem Forum der Öffentlichkeit, als im Zusammenhang mit einem Bauprojekt in der Zwingergasse, der einstigen Judengasse, das Gerücht auftauchte, dass man hier möglicherweise auf Reste des ehemaligen mittelalterlichen Judenfriedhofs stoßen könnte. Allerdings führten die auch von jüdischer Seite geforderten Probegrabungen zu keinem positiven Ergebnis. Die Tatsache, dass sich die Gebäudebezeichnung „Judentor“ und der Straßenname „Judengasse“ bis ins 20. Jahrhundert erhalten hatten, genügte schon, den urkundlich nirgendwo erwähnten Friedhof genau zu lokalisieren. Solche einmal geäußerten Vermutungen verwandeln sich häufig im Handumdrehen in historische Fakten. Ebenso glaubte man, die Stelle zu kennen, an der sich die Synagoge befunden haben soll. An einer inzwischen abgebrochenen Scheuer in der Calwer Gasse hatte man sogar eine Gedenktafel angebracht. Auch ist eine Überlieferung des 19. Jahrhunderts archivalisch nicht zu belegen, gemäß der sich an dieser Stelle früher eine St. Anna-Kapelle befunden habe, die möglicherweise auf dem Platz der zerstörten Synagoge errichtet worden war. Die Tatsache, dass es hier einst eine jüdische Gemeinde gab, ist erst 1923 durch einen Vortrag von Stadtschultheiß Hermann Schütz über den Rabbiner Jakob Weil ins allgemeine Bewusstsein gerückt worden.
Das sog. „Judentor“ in Weil der Stadt um 1900. © Landesmedienzentrum Baden-Württemberg / Hugo Hein. Negativnummer: LMZ45074)
Insgesamt kennen wir neun urkundliche Belege für das Vorhandensein einer jüdischen Gemeinde im mittelalterlichen Weil. Im Reichssteuerverzeichnis von 1241, in dem eine ganze Reihe von Judengemeinden genannt werden, werden noch keine Weiler Juden erwähnt.
So dauerte die Geschichte der Juden in Weil der Stadt nur etwas mehr als ein Jahrhundert. Aus späteren Jahrhunderten gibt es keine Nachricht, dass sich Juden wieder in der Stadt angesiedelt hätten. Einmal nur, als die Bevölkerung der Stadt durch den Dreißigjährigen Krieg dezimiert und verarmt war, erwog man, Juden in die Stadt zu holen, gab den Plan, aus welchen Gründen auch immer, wieder auf. Nach ihrer Vertreibung aus den Städten siedelten sie sich, sofern sie nicht nach Osteuropa abgewandert waren, im ländlichen Raum an und waren als Trödler und Viehhändler tätig. In unmittelbaren Kontakt zu Juden konnten die Weil der Städter allenfalls auf den Märkten kommen, wo sie später auch als Hopfenaufkäufer in Erscheinung traten. Im alten Gästebuch der Krone-Post findet man an Markttagen zuweilen einen jüdischen Namen.
In einer Episode seines Romans „Jud Süß“ schildert Lion Feuchtwanger, wie im Schwäbischen Kreis das Gerücht ging, der „Ewige Jude“ sei an verschiedenen Orten aufgetaucht, und auch die Stadt „Weil der Stadt, wo er in der Umgebung zuletzt gesehen worden, gab ihrer Torwache verschärfte Instruktionen.“ Inwiefern diese Stelle auf historischen Quellen beruht, entzieht sich unserer Kenntnis, dass es aber einen latenten Antisemitismus gegeben hat, geht aus einem Ereignis hervor, das sich Ende des 18. Jahrhunderts zugetragen hat und das vom reichsstädtischen Ratsschreiber minutiös protokolliert wurde.
Anno 1794, zur Zeit der Französischen Revolution, kaufte der Löwenwirt von Weil der Stadt einem durchreisenden Juden namens Hirsch Frank französisches Papiergeld, sogenannte Assignaten, im Wert von 30 000 Gulden ab. Im Glauben, einen guten Schnitt gemacht zu haben, versuchte sein Schwiegersohn, die Wertpapiere in Basel günstig weiter zu verkaufen. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass die Assignaten offensichtlich gefälscht waren. Wahrscheinlich aber waren sie eher durch einen inflationären Kursverfall auf einen Bruchteil ihres ursprünglichen Werts gesunken. Nun nahm man auf eigene Faust die Verfolgung des Juden auf. Bei Bruchsal wurde man seiner auf offenem Feld habhaft und brachte ihn ins Gefängnis nach Durlach. Der Magistrat der Reichsstadt Weil erwirkte jedoch die Auslieferung und ließ ihn hier in einem Turmgefängnis einsperren. Bevor es zur Gerichtsverhandlung kam, stürzte der Gefangene bei einem Fluchtversuch so unglücklich, dass er nach kurzer Zeit starb. Als Vertreter der jüdischen Gemeinde von Pforzheim, darunter der Schulmeister Anschel Moses, nach Weil der Stadt kamen, um den Leichnam abzuholen und ihn auf dem Judenfriedhof in Freudental zu beerdigen, wurde ihnen nicht nur verwehrt, an der Totenbahre Kaddisch zu sagen, d.h. das Totengebet zu sprechen, sondern auch die Herausgabe der Leiche verweigert. Unverrichteter Dinge mussten sie wieder abziehen. Den Leichnam hat man schließlich bei Nacht und Nebel im Betzenloch, einem Flurstück weit vor den Mauern der Stadt, in ungeweihter Erde verscharrt.“
Während der Anfang der Geschichte noch dem schwankhaften Genre zugerechnet und unter der Rubrik Menschliches – Allzumenschliches oder „Spitzbuben und Spießbürger“ abgelegt werden könnte, so wirkt doch der Schluss wie ein Vorgriff auf jene Erbarmungslosigkeit und Menschenverachtung, wie sie in der Reichsprogromnacht 1938 zum Ausbruch kam.
Darstellung eines Juden mit Judenhut auf dem Arma-Christi-Wandfresko der Weil der Städter Spitalkapelle aus dem 14. Jahrhundert. (Bild: Wolfgang Schütz)
Erstveröffentlichung: Berichte und Mitteilungen des Heimatvereins Weil der Stadt, 47. Jahrgang 1998, S. 22-23.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.