Chronik der letzten Kriegstage in Steinenbronn
Als die französische Armee am 31. März bei Karlsruhe den Rhein überschritten hatte, entwickelte sich die militärische Lage in unserem Raum rasch und dramatisch zur völligen Katastrophe. … Die alliierten Luftstreitkräfte waren jetzt fast täglich über unserem Ort. Oft konnte man mit bloßem Auge sehen, wie Jagdbomber über Böblingen kreisten und ihre Bomben abwarfen. … Nach der Zerstörung und Einnahme von Freudenstadt durch die Franzosen am 17. April, kamen immer wieder versprengte deutsche Soldaten einzeln oder in Gruppen durch unseren Ort. …
Montag, 16. April 1945
Im Schutze des dichten Frühnebels rückte eine Nachrichtenabteilung der Wehrmacht ein. Als der Nebel gegen 10.00 Uhr von der Sonne am Boden aufgelöst wurde, waren die Landwirte schon auf dem Feld damit beschäftigt, die Saatkartoffeln in den Boden zu bringen. Da heulten auch schon die Sirenen und in dem strahlend blauen Himmel tummelten sich die feindlichen Flieger. … Bis zum Anbruch der Dunkelheit konnte sich auf der Dorfstraße kein Fahrzeug bewegen. Einige Fahrzeuge der Wehrmacht, die in der Nacht durch den Ort fuhren, waren mit Offizieren besetzt. Diese fragten, sehr in Eile, nach dem nächsten Weg nach Esslingen oder Ulm, wohin sie sich offenbar absetzen wollten.
Dienstag, 17. April
Feindliche Jäger und vor allem die Jabos (Jagdbomber) beherrschten den ganzen Tag den Luftraum. Das Geknatter der Bordwaffen nahm kein Ende. Die Dorfstraßen waren wie ausgestorben. Man sehnte die Dunkelheit herbei, um wieder für einige Zeit Ruhe zu haben. Die im Ort einquartierten Panzertruppen aus Böblingen und die Nachrichtenabteilung bauten ihre Leitungen ab und machten sich zum Abmarsch bereit. In der Nacht zogen sie in östliche Richtung ab.
Mittwoch, 18. April
Am Morgen war in unserem Dorf keine reguläre Kampfeinheit mehr. … Am Abend ließ der stellvertretende Bürgermeister, Oberlehrer Scheu, mit der Ortsschelle bekannt machen, dass sich alle Männer im Alter von 16 65 Jahren am Morgen des 19. April am Rathaus versammeln sollten.
Donnerstag, 19. April
Oberlehrer Scheu erklärte den etwa 60 Männern, die der Anordnung Folge geleistet hatten, dass sie auf Anordnung der Kreisleitung mit Marschgepäck und Verpflegung für 4 Tage in der Nacht zum 20. April in Richtung Tübingen in Marsch gesetzt würden. Die meisten Männer widersprachen dieser Weisung sofort und gaben ihrer Empörung lautstark Ausdruck. Es kam zu tumultartigen Szenen. … Eine Handvoll Männer ging dann aber in der Nacht doch noch weg. Die einen kamen nur bis Waldenbuch, andere bis Dettenhausen und ein paar wenige sogar bis vor Tübingen, von wo sie umgehend wieder nach Hause geschickt wurden.
Am Abend des 19. April verließen der NSDAP-Ortsgruppenleiter, Hauptlehrer Zippel, mit Familie sowie der Schulleiter und stellvertretende Bürgermeister, Oberlehrer Scheu, den Ort. Es hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass französische Truppen schon in Schönaich gesichtet worden seien.
Bei Einbruch der Dunkelheit übernahm der Schreiner Gottlob Krauß die letzte Nachtwache, nachdem kein anderer Volkssturmmann sich mehr dazu bereit erklärt hatte. Er nahm die Gelegenheit war, mit einigen beherzten Männern in der Nacht die Panzersperren zu beseitigen, um so die Zerstörung des Dorfes zu vermeiden. …
Freitag, 20. April: Die Franzosen marschieren ein
Beim ersten Morgengrauen des 20. April 1945 durchrasten schon wieder Jabos den Luftraum über Steinenbronn und Umgebung. Gegen 10.00 Uhr erfolgte der erste Artilleriebeschuss unseres Dorfes. Die Granaten aus leichten französischen Haubitzen schlugen im nördlichen Ortsteil, links und rechts der Straße nach Echterdingen, ein und beschädigten einige Häuser. Menschen kamen nicht zu Schaden. … Inzwischen war es 13.00 Uhr geworden.
In diesen entscheidenden Stunden hat ein aufrechter Bürger und Gegner des Nazi-Regimes, Gottlob Krauß, die Initiative ergriffen und mit den im Ort untergebrachten französischen Kriegsgefangenen Verhandlungen wegen der kampflosen Übergabe unseres Dorfes an die französische Armee geführt. Er hat die weiteren, sich überstürzenden Ereignisse selbst wie folgt geschildert:
Um 14.00 Uhr begab ich mich mit drei französischen Kriegsgefangenen zum südlichen Ortsausgang in Richtung Waldenbuch. Wenige Minuten später kam aus Richtung Waldenbuch ein französischer Spähwagen. Einer der Gefangenen schwenkte ein weißes Taschentuch. Der Spähwagen hielt an und die Gefangenen waren frei. Nach kurzer Begrüßung wechselten die französischen Soldaten mit den befreiten Gefangenen noch einige Worte.
Die Funkanlage schrillte und der Fahrer gab mir zu verstehen, dass ich mit meinen drei Begleitern im Wagen Platz nehmen solle. Der Fahrer wendete rasch den Wagen und fuhr in Richtung Waldenbuch. Nach ca. 400 m hielt der Fahrer an, wo wir von einer Gruppe französischer Soldaten empfangen wurden. Diese brachten uns in einen an der Straße liegenden Steinbruch, wo wir dann vom Kampfkommandanten einem Verhör unterzogen wurden. Wir wurden über Besatzungsstärke, Truppenbewegungen usw. in Steinenbronn befragt. Nachdem diese Fragen von mir beantwortet waren, und ich versichert hatte, dass unser Ort nicht besetzt sei, gab der Kommandant an seine Soldaten verschiedene Anweisungen, die per Funk weitergegeben wurden. Wenige Augenblicke später rollten 12 bis 15 schwere Panzerkampfwagen vor. Mir und den ehemaligen französischen Kriegsgefangenen wurde die Weisung gegeben, die ersten Panzerwagen zu besteigen. Wir stiegen auf und fuhren sofort in Richtung Steinenbronn, wo wir nach einigen Minuten am Rathaus eintrafen. Dort wurde Halt gemacht.
Französische Soldaten begaben sich in das Rathaus und untersuchten dieses nach Waffen und Munition. Die Telefonanlage wurde zerstört. Von dem anwesenden Offizier wurde ich beauftragt, seine Anordnungen sofort im Ort bekanntzumachen. Die ersten Anordnungen erstreckten sich auf die Ablieferung von Waffen, Munition und andere militärische Gegenstände.
Daraufhin erfolgte die Besetzung der übrigen Ortsteile. Kurze Zeit darauf lief eine Meldung ein, wonach am nördlichen Ende des Orts ein kleiner französischer Panzerwagen von einem deutschen Soldaten mit einer Panzerfaust in Brand geschossen worden sei.“
Helmut Hanselmann (*1930), der gegenüber dem alten Rathaus wohnte, berichtet weiter:
… Kurz vor dem Eintreffen der französischen Truppen waren von der Hohenwart her ein Trupp auswärtiger bewaffneter Hitlerjungen an den Ortsrand gekommen und hatten sich an den beiden letzten Häusern und Gärten an der Bundesstraße auf der Kuppe an der Mahde festgesetzt. Vom Wald im Häule her war außerdem gegen Mittag eine Gruppe deutscher Soldaten beobachtet worden, die mit Panzerfäusten bewaffnet, ebenfalls zu dieser Straßenkuppe marschierten.
Als der erste Panzerspähwagen der Franzosen am nördlichen Ortsausgang an der B 27 angekommen war, wurde er von der Sprengladung einer Panzerfaust getroffen. Er geriet sofort in Brand, rollte noch ein Stück weiter und kam auf einem Acker neben der Straße zum Stehen, wo er völlig ausbrannte. Ob die Panzerfaust von den Hitlerjungen, oder von einem der deutschen Soldaten abgefeuert wurde, ließ sich nicht mehr eindeutig feststellen.
Von der Besatzung des Panzerwagens wurden zwei Soldaten sofort getötet, ein dritter schwer verwundet; sie wurden anschließend von ihren Kameraden geborgen und zum Gasthaus “Grüner Baum“ gebracht. Die deutschen Soldaten und die Hitlerjungen sind nach dem Abschuss die Straße hinab in den Wald geflüchtet. Die vom Ort aus nachfolgenden Fahrzeuge stoppten zunächst. Als der nächste Wagen, ein Jeep, auf der Höhe vom Haus Eberhardt langsam auf die Kreuzung zur B 27 zufuhr, sprang der in der Gärtnerei Braun (heute Zufahrt zum Gewerbegebiet Kring) beschäftigt gewesene französische Kriegsgefangene über die Straße auf den französischen Wagen zu, um seine Landsleute zu begrüßen. In diesem Augenblick wurde er von einer Maschinengewehrgarbe getroffen und stürzte schwer verwundet zu Boden. Vermutlich hat die Besatzung des Fahrzeugs, aufgeschreckt durch den Abschuss des vorausfahrenden Panzerspähwagens, gereizt und nervös überreagiert. Zunächst hatten die Franzosen wohl angenommen, dass der Panzerspähwagen aus einem der umliegenden Häuser abgeschossen worden sei. Sie drohten deshalb, dass sie vom Steinenberg und von anderen Stellungen aus, Steinenbronn mit ihren Kanonen beschießen würden. Durch die Vermittlung des französischen Kriegsgefangenen namens Thomas, der in der Gärtnerei Wacker an der B 27 beschäftigt war, konnte dieser Verdacht beseitigt und der tatsächliche Hergang aufgeklärt werden. Die angedrohte Beschießung wurde fallengelassen. …“
Nachdem sich die Lage an der Spitze der Truppe wieder beruhigt hatte, durchkämmten die Einheiten von der Ortsmitte aus auch die übrigen Ortsstraßen. Dabei drangen sie auch in Häuser ein, um nach versteckten deutschen Soldaten, Waffen und Fahrzeugen zu suchen.Dann begann das große Requirieren!
Die Besatzung
Die Spitze der in das Dorf eingedrungenen Kampfgruppe bestand überwiegend aus motorisierten weißen Soldaten der französischen Heimatarmee. Das Gros der afrikanischen Hilfsvölker, von der Bevölkerung einheitlich als Marokkaner bezeichnet, kam erst an den Tagen danach. (…) Bei ihrem Bemühen, Ausschreitungen und Exzesse zu verhindern, kamen den Offizieren oft die im Ort noch anwesenden ehemaligen französischen Kriegsgefangenen und Zivildienstverpflichteten zu Hilfe, die selbst in vielen Fällen Übergriffe und Tätlichkeiten der Marokkaner verhinderten. (…) Trotz allem ließen sich aber Gewalttätigkeiten auch gegenüber Frauen, nicht völlig verhindern. Mit wenigen Ausnahmen blieben die Auswirkungen der ersten Besatzungstage für Steinenbronn noch in erträglichem Rahmen. (…)
Nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 legten die Alliierten ihre Besatzungszonen endgültig fest. (…) Der Landkreis Böblingen gehörte mit Wirkung vom 1. Juli 1945 zur amerikanisch besetzten Zone. Die Franzosen räumten den Landkreis Stuttgart und die Böblinger Kreisgemeinden mit Steinenbronn am 7. Juli, am 8. Juli rückten die amerikanischen Truppen ein. (…)