Immanuel Gottlieb Kolb und seine Weggefährten
Pietismus im Raum Böblingen
Autor: Dr. Günter Scholz
Die Gedanken von Philipp Jakob Spener (1635-1705), dem Vater des Pietismus, fanden in Württemberg rasche und nachhaltige Aufnahme. Zum Reformprogramm, das Spener der zu Orthodoxie und Erstarrung neigenden evangelischen Kirche des 17. Jahrhunderts entgegensetzte, gehörten unter anderem das gemeinschaftliche Bibelstudium der Gemeindeglieder, die Mitarbeit der Laien in der Kirche und die Verwirklichung eines Christentums tätiger Nächstenliebe (“Praxis pietatis“). Die von Spener eingerichteten „Collegia pietatis“ bildeten das Vorbild für die Gemeinschaftsstunden des Pietismus, zu denen sich unter Durchbrechung von Standesschranken Gläubige aus allen gesellschaftlichen Schichten zu Bibellesung, Textbesprechung und Gebet versammelten.
Mit dem sogenannten Generalreskript von 1743 erhielt der Pietismus in Württemberg offizielles Heimatrecht in der Landeskirche und konnte sich auch im Böblinger Raum ausbreiten; zum Wegbereiter und Vordenker wurde hier der Bauernsohn und Laienprediger Michael Hahn (1758-1819) aus Altdorf. Er wollte „im Licht der Reformation fortwandeln und den reinen Protestantismus erlangen“. Vom Bemühen um eine Vertiefung der Frömmigkeit und der Betätigung des Glaubens im Leben, unter anderem durch Betonung der Jugendunterweisung und der christlichen Liebestätigkeit, gingen auch Impulse auf die Amtskirche aus. (…)
Aus nah und fern zog es damals Menschen nach Dagersheim, die bei Immanuel Gottlieb Kolb (1784-1859) Stärkung im Glauben, Zuspruch im Leid, aber auch Rat in praktischen Dingen suchten. (…) Kolb hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Dagersheimer Mitbrüdern, zu denen u.a. Johannes Dieterlen (1778-1849) und Gottlieb Waiblinger (1798-1860) zählten. Er stand zugleich in einem engen persönlichen und brieflichen Austausch mit anderen Vertretern des Pietismus im Böblinger Raum, besonders zu Michael Hahn.
Von dem Gottsucher Hahn, der auf dem Hofgut Sindlingen seiner Gönnerin Franziska von Hohenheim lebte, gingen entscheidende Einflüsse auf die innere Entwicklung des nahezu eine Generation jüngeren Kolb aus, u.a. in der Betonung strenger Ethik und menschlicher Selbstverantwortung. Nach Hahns Tod machte sich Kolb als Mitherausgeber von dessen Schriften verdient. Von Kolb stammen auch die Anmerkungen zu den Bibelstellen in Hahns “Liederkästlein“. Nach dem Tod seines Nebringer Mitbruders Anton Egeler (1770-1850) oblag Kolb die organisatorische Ordnung der Hahn’schen Gemeinschaften.
Der Brückenschlag im Glauben reichte von Dagersheim auch zur damaligen Oberamtsstadt Böblingen, vor allem zu Johann Jonathan Friedrich Metzger (1782-1866); zu ihm stand Kolb zudem in verwandtschaftlicher Beziehung.
Der in Schönaich geborene Kaufmann Jonathan Metzger hatte sich nach zahlreichen Reisen 1811 in Böblingen niedergelassen und dort mit einem Neffen ein chemisches Geschäft gegründet. Es ging später an die Familie Bonz über, deren chemische Fabrik durch die Entwicklung des reinen Narkoseäthers Weltruhm erlangte. Metzger war so einer der Väter der frühindustriellen Entwicklung Böblingens im 19. Jahrhundert. In seinem Haus hielt er Erbauungsstunden besonders auch für Kinder. Wie Metzger bezeugt, fühlte er sich Kolb, mit dem ihm auch der nüchterne Sinn fürs Praktische gemeinsam war, besonders verbunden. Er bezeichnete den Dagersheimer Glaubensvater als den ihm „am nächsten stehenden Bruder“.
Zu den Geistesverwandten Kolbs zählte auch der Kreis um den bereits genannten Anton Egeler und seinen Bruder Christoph aus Nebringen im Gau sowie auch Martin Schäffer, der Nachfolger Hahns in Sindlingen. (…)
Kolbs Lebenswerk wurde [in Dagersheim] von den Brüdern Gottlieb Ziegler (1798-1875) und Johann Georg Ziegler (1800-1872) fortgeführt. (…)
Durch Kolb und seine Gefährten wurde Dagersheim zusammen mit Altdorf, Böblingen, Sindlingen und Nebringen zu einem Ausstrahlungszentrum des Pietismus im Böblinger Raum. Die Gedanken Kolbs und seiner Mitbrüder gaben nicht nur Glauben und Frömmigkeit nachhaltige Impulse; sie hatten zugleich Auswirkungen auf die weltlichen Lebensbereiche. So suchten Kolb und Ziegler den Nöten der Zeit, Krieg und Hunger eine Sinndeutung zu geben, indem sie diese als menschliche Prüfungen auf dem Weg zu Gott verstanden. Sie stärkten damit die innere Widerstandskraft und das Durchhaltevermögen einer leidgeprüften Bevölkerung in schwerer Zeit.
Das Wirken Kolbs und seiner Mitstreiter wurde ferner bedeutsam für die Ausbildung und Verbreitung bestimmter Denkhaltungen und Wertvorstellungen. Die Wirkung solcher Verhaltensmuster und “Mentalitäten“ lässt sich zwar nicht als messbare Größe erfassen. Sie bildeten jedoch gewiss einen unter mehreren Faktoren, welche die Entfaltung von Gewerbe und Industrie im Böblinger Raum trotz Rohstoff-, Energie- und Kapitalmangel seit Anfang des 19. Jahrhunderts begünstigt haben – und so lebhaft bis in die Gegenwart fortwirken.
Das bekannte „Fünf-Brüder-Bild“ versammelt die prägenden Persönlichkeiten des württembergischen Pietismus um einen (fiktiven) Tisch. Von rechts nach links: Michael Hahn (1758-1819), Immanuel Gottlieb Kolb (1784-1859), Johann Martin Schäffer (1763-1851), Anton Egeler (1770-1850) und Johannes Schnaitmann (1767-1847). Im Vordergrund steht ein leerer Stuhl. Für ihn gibt es zwei Deutungen: Die einen sehen darin eine unaufdringliche Einladung an den Betrachter, sich der Brüdergemeinschaft anzuschließen, die anderen deuten den leeren Stuhl als Sinnbild für die Gegenwart Gottes. (Bild: Stadtarchiv Böblingen)
Erstveröffentlichung: Durch Leiden zur Herrlichkeit – Immanuel Gottlieb Kolb und der Dagersheimer Pietismus. In: Dagersheim - Vom Frühmittelalter zur Gegenwart, Böblingen 1998. (Gemeinde im Wandel, Band 6. Eine Schriftenreihe des Instituts für Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen, hrsg. von Sönke Lorenz und Andreas Schmauder), S. 91 - 98.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Der Autor, Dr. Günter Scholz, studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Anglistik an der Universität Tübingen. Seit 1981 leitete er das Böblinger Stadtarchiv, später auch das von ihm konzipierte Bauernkriegsmuseum. Von 1993 bis 2005 leitete er das Böblinger Kulturamt.
Als Ergänzung zu diesem Beitrag finden Sie in zeitreise-bb auch den Artikel von Hans-Dieter Frauer Pietismus im Gäu