Der Pietismus beginnt als Untergrundbewegung
Pietismus im Gäu
Autor: Hans-Dieter Frauer
Das Gäu war schon früh eine Hochburg des Pietismus. Dazu mögen die Lage des früheren Dekanats Herrenberg an der Landes- und Konfessionsgrenze zu Vorderösterreich1 und die Nähe zur Universität Tübingen – lange eine Säule des Pietismus – beigetragen haben und schließlich sind aus dem nahen Nordschwarzwald wichtige Impulse auch ins Gäu gelangt.
Außerdem hatte Herrenberg mit Dekanen wie Samuel Urlsperger und Friedrich Christoph Oetinger prägende pietistische Führungspersönlichkeiten. Im 18. Jahrhundert wurden zudem Gemeinden wie Gärtringen und Mötzingen wegen entschiedener Pfarrer und Pietisten landesweit bekannt. Heute gibt es keine Gemeinde im Gäu und im Bezirk Herrenberg ohne eine örtliche Gemeinschaft oder ohne einen Hauskreis.
Eben mit solchen Hauskreisen hat der Pietismus einst begonnen. Menschen aus allen Schichten kamen (und kommen bis heute) zusammen, um miteinander die Bibel zu lesen, über ihre Aussagen nachzudenken und darüber zusprechen. Was heute als selbstverständlich gilt, wurde einst von geistlicher und weltlicher Obrigkeit höchst misstrauisch beäugt. Sie wusste nicht, wie sie mit Menschen umgehen sollten, die nur fromm sein wollten, das Wort der Bibel als verbindlichen Maßstab für ihr Leben nahmen und im übrigen einen vorbildlichen Lebenswandel führten. Es gab Schikanen und Bestimmungen “gegen die Pietisterey“, die Bewegung hat daher im Verborgenen und im Untergrund begonnen.
Der Pietismus ist ursprünglich kein württembergisches Gewächs. Er geht zurück auf Philipp Jakob Spener. Der Frankfurter Oberhofprediger verfasste 1675 eine programmatische Schrift “pia desideria“ (fromme Wünsche) zur Erneuerung der evangelischen Kirchen. Sie erhoffte er sich durch gründliches Bibelstudium, (Bibel als Lehr- und Lebensbuch), Mitarbeit von Laien („allgemeines Priestertum der Gläubigen“), ein vom Glauben her geprägtes Leben, gemeindenahes Theologiestudium und erwecklich-missionarische Predigten. Damit hat Spener viele Anregungen des aus Herrenberg stammenden Johann Valentin Andreae aufgenommen, auf den er sich wiederholt ausdrücklich berufen hat. Vom Titel seiner Schrift leitet sich der Name “Pietist“ ab, der schon 1677 belegt ist – zunächst als Spottname.
Speners Gedanken waren für die damalige Zeit – der mörderische 30-jährige Krieg ist allgemein noch in schlechter Erinnerung, der gegenreformatorische Barock beginnt, der Absolutismus beginnt sich herauszubilden, die Einwohner des Landes werden zu nahezu rechtlosen „Untertanen“ – geradezu revolutionär. Sie breiteten sich in dem vom 30-jährigen Krieg besonders schwer getroffenen Württemberg rasch aus: schon um 1680 gab es die ersten Hauskreise, die damals “Privatversammlungen“ genannt wurden. Hier kamen, wie in den Zeiten der Urkirche Menschen aus allen Schichten zusammen, Theologen und Nicht-Theologen, Bauern, Beamte, Angehörige der Führungsschicht. Man las gemeinsam die Bibel und dachte über sie und ihre Aussagen und Verheißungen nach. Das war für die damalige Zeit geradezu unerhört und weltliche und kirchliche Obrigkeit reagierten darauf entsprechend. Es gab zahlreiche Gesetze gegen die Pietisterey und es brauchte seine Zeit, bis 1743 das berühmt gewordene Pietistenrescript ein meist gutes Miteinander von Pietismus und Kirche in Württemberg möglich machte.
Das berühmte Bild vom breiten und vom schmalen Weg spiegelt anschaulich das pietistische Selbstverständnis des späten 19. Jahrhunderts wieder. Es entstand um 1860 auf Anregung der Stuttgarter Kaufmannsfrau Charlotte Reihlen. Die Stationen am schmalen Weg – Sonntagsschule, Knaben-Rettungsanstalt oder Diakonissenhaus - propagieren ein in den christlichen Glauben eingebettetes, asketisches Leben von der Taufe bis ins Jenseits, getreu dem Motto: Von allen Dingen lass ab, die nicht mitgehen bis ins Grab. Die Stationen am breiten Weg dagegen - Spielhölle, Maskenball und Theater – warnen vor Alkohol und Krieg und stehen für ein sinnentleertes, oberflächliches Leben. (Foto: Stadtarchiv Böblingen)
Der Pietismus hat (Alt-)Württemberg nachhaltig verändert. Ihm waren zwar nie mehr als etwa sieben bis acht Prozent der Einwohner zuzurechnen, diese Minderheit hat aber prägend gewirkt. So sind etwa Kindergottesdienst und Konfirmation unter dem Einfluss des Pietismus entstanden. Bibellesen und das Nachdenken darüber führte zu ganz praktischen Auswirkungen: durch den Pietismus rückte nicht nur die Weltmission ins Blickfeld sondern soziale Probleme vor der eigenen Haustür: so entstanden eine Fülle von „Rettungseinrichtungen“ für “gefallene Mädchen“, verwahrloste Knaben“ (so hieß das damals tatsächlich), aber auch der erste Tierschutzverein der Welt ist von einem Pietisten gegründet worden und selbst die schwäbischen Spätzle gelten als eine Entwicklung des Pietismus.
Das bekannte Fünf-Brüder-Bild versammelt die prägenden Persönlichkeiten des württembergischen Pietismus um einen (fiktiven) Tisch. Von rechts nach links: Michael Hahn (1758-1819), Immanuel Gottlieb Kolb (1784-1859), Johann Martin Schäffer (1763-1851), Anton Egeler (1770-1850) und Johannes Schnaitmann (1767-1847). Im Vordergrund steht ein leerer Stuhl. Für ihn gibt es zwei Deutungen: Die einen sehen darin eine Einladung an den Betrachter, sich der Brüdergemeinschaft anzuschließen, die anderen deuten ihn als Sinnbild für die Gegenwart Gottes. (Bild: Stadtarchiv Böblingen)
Erstveröffentlichung: Gäubote – Tageszeitung im Kreis Böblingen für Herrenberg und das Gäu,1. Juli 2004.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Gäuboten.
Der Autor Hans-Dieter Frauer ist Historiker und Publizist. Er lebt in Herrenberg und ist ein ausgewiesener Kenner der württembergischen Landes- und Kirchengeschichte. Er hat mehrere Bücher verfasst und ist ein gefragter Vortragsredner.
Als Ergänzung zu diesem Beitrag finden Sie in zeitreise-bb auch den Artikel von Dr. Günter Scholz Pietismus im Böblinger Raum – Immanuel Gottlieb Kolb und seine Weggefährten.
Referenz
↑1 | Vorderösterreich (Vorlande): Seit dem 16. Jh. gebräuchliche Bezeichnung für die den Erblanden vorgelagerten südwestdt. Besitzungen der Habsburger („Schwanzfeder des Kaiseradlers“). Im Frieden von Pressburg (1805) mussten die Habsburger Vorderösterreich abtreten; Napoleon belohnte so seine Vasallen für ihre Heerfolge. Einen Teil der Vorlande bildete seit 1381 auch die Herrschaft Hohenberg mit der Stadt Rottenburg (Landkreis Tübingen). Bis heute sind diese Gebiete stark katholisch geprägt. |
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