Die Schönaicher Pockenepidemie 1848 bis 1850
Autor: Dr. Fritz Heimberger
Auch heute noch nicht ganz überwunden, waren die Pocken von jeher eine Geisel der Menschheit.1 In Schönaich wüteten sie vor etwas mehr als 100 Jahren längere Zeit.
Dabei hatte das Jahrhundert hoffnungsvoll begonnen. Im Juni 1818 wurde erstmals „die durch das Gesetz vom 25. Juni 1818 vorgeschriebene Impfung vollzogen“.2Aber waren nun nicht alle Impfpflichtigen erfaßt worden (was es ja auch heute noch geben soll) oder hatte man auch – wofür gleichfalls manches spricht – die Wiederimpfung vergessen, jedenfalls im Spätjahr 1848 waren die Pocken wieder da. In dem kleinen, damals knapp 2000 Einwohner zählenden Dorf erkrankten gleich anfangs 67 Personen.
Die Seuche brach auch in anderen Gemeinden des Oberamtsbezirks, ja in ganz Württemberg aus. So berichtete der Böblinger Bote am 17. Januar 1849: „In Magstadt nehmen die Pocken auf eine beunruhigende Weise überhand. Es sollen bereits über 24 Häuser abgesperrt seyn.“
Die Württ. Jahrbücher reden 1848 „vom Ausbruch der Menschenpocken sowohl in ihrer ächten als hauptsächlich in der modificirten Form, wie sie gewöhnlich bei Individuen, die zuvor mit dem Kuhpockenimpfstoff geimpft worden sind, auftritt.“ Die Seuche war in Württemberg so weit verbreitet, „daß nur wenige Bezirke … unberührt blieben.“ Seit der Einführung der Kuhpockenimpfung in Württemberg war „eine solche Häufigkeit der Menschenpocken im Lande nicht mehr erhört worden“.3
Die Epidemie hielt sich das das ganze folgende Jahr hindurch, um im Febr. 1850 erneut um sich zu greifen. Erst am 6. Juni 1850 waren keine Pockenkranken mehr hier.
In Schönaich traten die Pocken wie überall entweder als „Varioloiden-Krankheit“, das heißt als mildere Erkrankung bei Geimpften oder als „natürliche Menschenpocken“ bei Ungeimpften auf. Die Epidemie war nicht leicht. Das kgl. Medizinalkollegium in Stuttgart erwähnte in einem Erlaß an das Oberamt Böblingen am 29. 5. 1850 von „der langen Dauer und der nicht unbedeutenden Ausdehnung, welche die Krankheit in dieser Gemeinde erlangt hat“ und erwähnte auch die „verhältnismäßig vielen Sterbefälle“. Insgesamt starben 1849: 1 und 1850: 5, also zusammen 6 Personen. Begünstigt wurde die Seuche durch die Verhältnisse jener Zeit. Im Wirrwarr der Revolution von 1848 hatte man „die sonst zur Verhütung der Ansteckung wirksamen Maaßregeln … vielfach nur unvollständig und zuweilen zuweilen auch gar nicht“ durchgeführt“(Württ. Jahrbücher).
Außerdem trug das enge Zusammenwohnen und die wirtschaftliche Not jener Jahre zur weiteren Ausbreitung der Seuche bei. 1848 klagte der Schönaicher Gemeinderat, daß „die Gebäude hier so überfüllt sind, daß sich sehr oft 2 Familien in einer und derselben Stube aufhalten“. 1850 wohnten im Hause des J. Adam Rebmann, als hier die „Varioloiden“ ausbrachen, 7 Familien mit insgesamt 19 Seelen. Die Einwohner waren „bei der sehr zerstückelten Ortsmarkung … in Folge der Stokung der Gewerbe und in Folge der…vielen und großen Prästationen so in ihren Vermögens-Verhältnißen zurückgekommen …, daß der bei weitem größte Theil dreist als arm bezeichnet werden“ durften. Die Pocken traten denn auch zuerst im Armenhaus auf.
Ferner ging den Bürgern das Gefühl für den Ernst der Stunde ab. Im März 1850 tauchte „die Vermutung von weiteren bis jetzt nicht zur Anzeige gebrachten Krankheitsfällen“ auf. Da tatsächlich „die Krankheit z. Theil erst nach dem Tode zur Kenntniß der Behörden kam“ mußten noch am 1. Juni desselben Jahres Wundarzt und ein Mitglied des Gemeinderats (Waker) beauftragt werden, „eine Untersuchung von Haus zu Haus vorzunehmen, sämtliche Mitglieder eines Hauses zu besichtigen, diejenigen, die von den Varioloiden ergriffen sind, genau aufzuzeichnen“.
Es fehlte auch an geschultem Personal und den nötigen Räumlichkeiten, um der Seuche wirksam begegnen zu können.
Es gab hier einen Wundarzt (Wolf), der zugleich Impfarzt, Leichenschauer und Armenarzt war. Er wurde jeweils für 3 Jahre gewählt. Ferner sorgten 2 Hebammen und 2 Fleisch- und Brotschätzer für das örtl. Gesundheitswesen, über das der Oberamtsarzt (Dr. Wunderlich) die Oberaufsicht führte.
Vorsorglich hatte Wundarzt Wolf als Armenarzt die Krankheiten nur „soweit als er hiezu befähigt ist“ zu behandeln. Jetzt beauftragte ihn der Oberamtsarzt mit dem Besuch der Pockenkranken. Die damaligen Wundärzte (sog. Chirurgen) waren nicht akademisch vorgebildet, sie beherrschten lediglich die notwendigen Handgriffe bei der Behandlung von Wunden und Knochenbrüchen. Die Kranken blieben wo sie waren, in ihren Wohnungen. Diese schloss man ab und stellte andere Bürger als Wächter und Besorger auf.
Ländliche Pockenimpfung. Illustration von Rudolph Geissler aus der Zeitschrift „Die Gartenlaube“, 1867, Heft 38, S. 605. (Bild: Wikimedia Commons / Public Domain)
Am 4. 2. 1850 berichtete Schultheiß Roller dem Oberamt, „daß das Haus des Philipp Mezger, Gottfrieds Sohn, und die Wohnung des Joh. Adam Rebmann …abgeschlossen, d.h. mit einer Schlempe und Anhängeschloß versehen worden seye, und daß bei letzterem ein Wächter (Michael Rebmann, Blattmacher) aufgestellt wurde“. – Bisweilen, so bei der Ehefrau des Philipp Metzger begnügte man sich „in Betracht, daß die Wohnung …abgelegen ist“, mit der Anbringung eines Anhängeschlosses. – War der Ort, wo die Kranken lagen, aber ziemlich besucht, so begnügten auch Schloß und Wächter nicht. Im Febr. 1849 mußte das Schultheißenamt auf Weisung des Oberamtsarztes dazuhin im Armenhaus die Fenster des Zimmers, worin sich der pockenkranke Vetter befindet, mit Latten vergittern … lassen, „damit niemand in dieselben steigen kann.“
Die solchermaßen in Quarantäne liegenden ärmeren Bewohner mussten, da sie von der Hand in den Mund lebten, auf Kosten der Gemeinde versorgt werden. Das führte bei den dürftigen Verhältnissen der Gemeinde zu ernsten Schwierigkeiten.
Als im Febr. 1850 das Haus des J. Adam Rebmann wegen „der Varioloiden-Krankheit“ geschlossen werden sollte, in dem sich 19 Personen befanden, bemerkte Schultheiß Roller in einem Bericht an das Oberamt, „daß die Gemeinde das Kost- und Wartgeld, das sich täglich auf mindestens pro Person 15 Kr., also auf 4 fl. 45 Kr. Belaufen würde, bezahlen müßte, eine Aufgabe, die die Gemeindekaße in der That nicht zu leisten vermöchte“. Da die „Blattern der Rebmann’schen Ehefrau schon am Abdorren seyn“ sollten, war der Schultheiß der Meinung, „es dürfte … für Mitbewohner des Hauses keine Gefahr mehr vorhanden seyn“ und es möchten deshalb „blosse Warntafeln“ genügen.
Das Oberamt trat diesen Ansichten entgegen, Es musste freilich feststellen, „daß die angeordnete Sperre durchaus nicht mit der erforderlichen Strenge gehandhabt“ wurde (4. 2. 1850).In einer anderen Auslassung des Oberamts vom 12. 2 1850 heißt es, daß „wenn das Schultheißenamt dem trotzigen Benehmen des J. Adam und des J. Georg Rebmann von Anfang an standhaft entgegen getreten wäre, jene strengere Maßregel nicht nothwendig geworden wäre“.
Nicht nur der Trotz der in ihren Häusern in Quarantäne lebenden Bürger, auch die Furcht ihrer Aufseher vor der Krankheit minderten die Wirksamkeit der Sperre.
Der Schultheiß selbst gab ein unrühmliches Beispiel. Am 4.2.1850 bemerkte Schultheiß Roller in seinem Bericht an das Oberamt, auf seine persönliche Verantwortlichkeit für die Handhabung der angeordneten Sperre eingehend, er habe „vor der Pokenkrankheit einen solchen Respekt“, daß er sich scheue, „in ein davon heimgesuchtes Haus zu gehen, obgleich ich mich vorheriges Jahr mit gutem Erfolg impfen ließ“. Er fuhr fort: „Wenn der Ortsvorsteher in Folge seines Eintritts in ein von Poken heimgesuchtes Haus angesteckt oder dieselben auf seine Familie übertragen würde …, so müßte ja auch bei ihm die Sperre angeordnet werden und die erste Folge die seyn, daß ein Amtsverweser auf seine Kosten aufgestellt werden müßte und dieses wäre dann der Lohn für den Diensteifer.“
Das Oberamt wußte den ängstlichen Ortsvorsteher zu beruhigen, die Ueberwachung der Sperrmaßregeln könne geschehen, ohne daß er die Häuser betrete. Mit dem Diensteifer der untergeordneten Wächter mag es unter diesen Umständen nicht weit her gewesen sein.
Ueberhaupt hielt man es jetzt für ratsam, die Polizei zur Beaufsichtigung und Verstärkung der Zivilwächter heranzuziehen, so den Polizeidiener Wolf, der am 27.3.1850 für Beaufsichtigung und Einschließung der Pockenkranken 4 fl. Erhielt. Der eigens abkommandierte Landjäger sollte zusammen mit dem Schultheiß die Wächter beaufsichtigen. Die Behörden wollten die verhängte Sperre auf diese Weise wirksamer machen, doch untergruben sie ihr Werk selber. Das ärztliche Personal, Wundarzt und Hebammen, hatten freien Zutritt zu den Pockenkranken und konnte nach einer Reinigung die Häuser der Infizierten ebenso frei wieder verlassen, um andere nicht von der Seuche ergriffene Personen zu behandeln! Es wundert einen bei dieser Auffassung, daß wenigstens die Taufe von Kindern aus der Quarantäne „wenn nicht etwa der Gesundheitszustand des Kindes etwas anderes erfordert, füglich bis zur Aufhebung der Sperre verschoben werden“ sollte (8.2.1850).
Der Erfolg oder besser gesagt Mißerfolg solcher Bemühungen ließ nicht lange auf sich warten. Schon am 6.3.1850 mußte das Oberamt dem Schultheißenamt Schönaich berichten, lt. Anzeige des Oberamtsarztes sei das ½ Jahre alte Kind des Wundarztes Wolf in „letzt verfloßener Nacht an Gichtern verstorben. Dasselbe war zugleich mit den Varioloiden behaftet.“ Das ärztliche, nicht der Quarantäne unterliegende Personal, voran Wundarzt Wolf, der als Arzt und Leichenbeschauer mit den Kranken in Berührung kam, sorgte dafür, dass die Seuche nicht erlosch.
Bei Beerdigungen Pockenkranker war jedermann kopflos und niemand wollte sich zu den notwendigsten Verrichtungen hergeben. Doch unterließ man trotzdem manches, was zur Eindämmung der Seuche notwendig gewesen wäre.
Als der Krämer Michel Wendel Binder an den Pocken gestorben war (7.4.1850), bat das Schultheißenamt das Oberamt um Verhaltungsbefehle und fügte dem bei, niemand werde sich „zum Einwickeln und Tragen (der Leiche) hergeben.“ Man müsse daher wissen, „wer hiezu gezwungen werden kann, da das Eheweib und die Tochter zum Einwikeln und Bahrlegen nicht stark genug sind.“ Oberamtsarzt Dr. Wunderlich erlaubte, daß die Beerdigung schon am darauffolgenden Abend erfolgte. Sie war „ohne alle Ceremonien und ohne Leichenbegleitung in aller Stille vorzunehmen“. Das Leicheneinwicken aber hatte „natürlich (!) von der hiezu aufgestellten Person zu geschehen.“ Sollten sich „keine Träger finden lassen, was jedoch sehr unwahrscheinlich ist, so wäre der Leichnam auf einem Wagen auf den Gottesacker zu führen. Als Träger müssen jedoch Leute im Alter von etlichen und 50 bis 60 Jahren aufgestellt werden (!) oder solche, welche schon die natürlichen Blattern durchgemacht haben.“ Um das ganze Ausmaß mangelnder Sorgfalt zu erfassen, ist noch zu wissen, daß die Leute über 50 Jahren, die Träger sein sollten, nicht einmal geimpft wurden, da man sie für immun gegen die Pocken hielt!
So war vieles, was die Seuche hätte eindämmen können, durch mangelhafte Besorgung wertlos, ja ins Gegenteil verkehrt worden. Wirft man den Blick auf die getroffenen Schutzvorkehrungen, so bleibt er nach der lückenhaften Sperre und der vom Wundarzt beim glücklichen oder unglücklichen Ende der Krankheit gehandhabten Desinfektion auf der energisch betrieben Wiederimpfung („Revaccination“) haften.
Erlasse des Oberamts Böblingen (7.4.1849) und des Medizinalkollegiums (29.5.1850) schärften der Gemeinde immer wieder die Vornahme der Wiederimpfung als „deshauptsächlichsten Mittels gegen die Ansteckung durch die Menschenpocken“ ein. Wie schon oben berührt, beruhte das Krankheitsgeschehen jener Jahre vor allem darauf, daß man nur einmal, nicht zweimal geimpft hatte. Das sollte jetzt nachgeholt werden.
Eine königliche Verordnung vom 11.5.1829 und darauf fußende öffentliche Aufforderungen schienen zu Erfassung der Impfpflichtigen nicht zu genügen. Um dem Impfgeschäft größeren Eingang zu verschaffen, wurden für die Dauer der Pockenepidemie die Kosten der Widerimpfung (6 Kr. Pro Person) „unter der Bedingung einer ausgedehnten Teilnahme … auf die Staatskasse übernommen“.
Wundarzt Wolf impfte 1849 die Schuljugend nach. Gleichzeitig nahm man die Wiederimpfung unter den „Ortseinwohnern vom 14. – 48ten Lebensjahre“ vor. Schon hier wies das Impfgeschäft entscheidende Lücken auf. Man impfte nämlich, wie wir schon oben sahen, die älteren Personen über 48 Jahren überhaupt nicht, da man sie für immun gegen die Pocken hielt. Und es ist sicherlich nicht nur Diplomatie, sondern auch Leichtsinn, wenn man versprach, nach der Impfung die Sperre nur noch mit Warnungstafeln aufrechterhalten zu wollen.
Die Gemeinde Schönaich hatte mit Ausnahme des Anteils, welchen die Staatskasse an den Impfkosten trug, sämtliche Auslagen anläßlich der Epidemie zu tragen. Sie bestanden in der Entlohnung der Wächter, Bezahlung der zur Einschließung der Häuser notwendigen Arbeit, Verköstigung der in Quarantäne liegenden armen Bürger, Ersatzleistungen an die Oberamtspflege und den Kosten für das ordentliche und außerordentliche Impfgeschäft. Das waren im Rechnungsjahr 1848/49 51 fl. 40 Kr., 1848/50: 34 fl. 5 Kr. 1850/51: 32 fl. 48 Kr, 1851/51 (im Nachtrag): 5 fl 31 Kr.
Quellen:
Edward Jenner bei der ersten Impfung gegen Pocken, die er bei dem achtjährigen James Phipps am 14. Mai 1796 durchführte. Gemälde von Ernest Board um 1910. (Bild:Wikimedia Commons/Public Domain)
Erstveröffentlichung: Aus Schönbuch und Gäu. Beilage des Böblinger Boten, Nr. 12/1964
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Familie FRitz Heimberger und des Heimatgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu e.V.
Der Autor, Dr. Fritz Heimberger, war Historiker und arbeitete viele Jahre im Auftrag des Landkreises Böblingen in der Funktion eines Kreishistorikers.
Literaturhinweise
Impfungen und Pocken in Württemberg: Aus amtlichen Quellen bearbeitet von G.Cless, Stuttgart 1871 (siehe s. 63 f.) (https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/QP3TWFX3VJQK6Q7MAE4KHIS632CMCP3O)
Die Pockenepidemie Württembergs in den Jahren 1848-50 von Dr. Reuss.
In: Württ.-medic.Corresp.-Blatt, Bd. XXIII, Nr. 28 und 29. (http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11002744_00001.html)
Referenz
↑1 | Der Text von Fritz Heimberger stammt aus dem Jahr 1964. In Folge eines konsequenten Impfprogramms, erklärte die WHO die Welt 1980 offiziell für pockenfrei. |
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↑2 | Bahnbrechend für die Bekämpfung der Seuche war die Entdeckung, dass Menschen, die sich mit dem vergleichsweise harmlosen Kuhpocken-Virus (Vacciniavirus) infiziert hatten, danach auch gegen eine Ansteckung mit den „echten Pocken“ (Orthopoxvirus Variola) geschützt waren. Auf dieser Grundlage begannen Wissenschaftler eine Impfmethode (Vakzination) zu entwickeln, die 1796 in England von dem Landarzt Edward Jenner mit größerer Breitenwirkung eingeführt wurde. 1807 erließ Bayern als erstes Land weltweit eine Impfpflicht. Das Königreich Württemberg folgte 1818. |
↑3 | Die Epidemie forderte über 600 Tote. Siehe: Impfungen und Pocken in Württemberg: Aus amtlichen Quellen bearbeitet von G. Cless, 1871, S. 63. http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11002744-2 |