Das Schellinghaus in Leonberg
Autorin: Verena Hartmann
Das Schellinghaus in der Pfarrstraße 14, wenige Schritte von der Stadtkirche entfernt, konnte im Jahre 1999 ein Jubiläum eigener Art feiern: Es war dann genau 300 Jahre lang ohne Unterbrechung evangelisches Stadtpfarrhaus – angesichts einer nicht geringen Anzahl aufgegebener alter Pfarrhäuser im Land durchaus etwas Besonderes.
300 Jahre bedeuten rund 25 Pfarrer, die mit ihren Familien hier gelebt und gewirkt haben. Die Gedenktafel neben dem großen Rundbogentor bestätigt den Ruf des evangelischen Pfarrhauses, nicht selten die Wiege großer Geister gewesen zu sein: Innerhalb von 20 Jahren kamen in diesem Haus drei bedeutende Männer zur Welt; der Theologe Heinrich Eberhard Gottlieb Paulus (1761 – 1851), der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775 – 1854) und der Arzt und Naturwissenschaftler Karl Wilhelm Hochstetter (1781 – 1811). Ihre Väter folgten als Diakone (so die damals gebräuchliche Bezeichnung für den Stadtpfarrer) unmittelbar aufeinander.
Das steinerne Wappenrelief über jener Tafel zeigt mit dem Einhorn und der Jahreszahl 1626, dass das Haus selbst eine noch ältere Geschichte hat. Es weist den Leonberger Untervogt Lutherus Einhorn als ehemaligen Besitzer aus. Einhorn, zu trauriger Berühmtheit gelangt durch den Hexenprozess gegen die Mutter des Astronomen Kepler, hatte schon 1618 die an dieser Stelle stehende Scheuer gekauft und 1626 zum Wohnhaus umgebaut, vielleicht als Alterssitz, da seine Amtszeit im Schwarzen Adler, der damaligen Vogtei, abgelaufen war.
Einen Diakon gab es in Leonberg seit 1538. Seine Dienstwohnung war zuletzt im Eckhaus auf dem Kirchplatz. Im Dekanatsarchiv finden sich Schriftstücke aus den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, die von ständigen Klagen der Diakone über ihre unzumutbare Behausung berichten. Im Jahre 1699 endlich wird das alte Diakonatshaus gegen das jetzige eingetauscht.
Die älteste im Dekanatsarchiv auffindbare Pfarrhausbeschreibung von 1828 erwähnt unter anderem die drei großen Hausflure, den beheizbaren ersten Wohnstock, die Menge alter Kammern und den großen „für den Wein vorteilhaften“ Keller. Das sind im großen und ganzen noch heute die Gegebenheiten des Hauses. Die Ställe im unteren Hausöhrn sind natürlich verschwunden, leider auch das Waschhäuschen im seitlichen Höfchen hinter der Mauer.
Das Schellinghaus in der Leonberger Pfarrgasse (Foto: S. Schmidt)
Ein Pfarrhaus ist immer Dienstwohnung auf Zeit und so verwehen die sichtbaren Spuren ihrer Bewohner schnell. Auch Schelling, der bedeutendste von allen, dessen Namen das Haus nun trägt, verließ schon im Alter von zwei Jahren seine Geburtsstätte, als sein Vater als Professor an die Klosterschule in Bebenhausen berufen wurde. Mit 15 Jahren kam Schelling ins Tübinger Stift, wo er mit Hegel und Hölderlin eine gemeinsame Stube bezog – eine Jahrhundertkonstellation.
23-jährig kam Schelling als Professor nach Jena, damals mit Schiller, Fichte und dem Kreis der Frühromantiker um die Gebrüder Schlegel – ein Brennpunkt deutschen Geisteslebens. Nach neueren Forschungen gilt Schelling als der Vollender des Deutschen Idealismus. Dass seine Natur- und Freiheitsphilosophie auch heute noch nachwirkt, beweisen nicht zuletzt die 1986 gegründete Schellinggesellschaft und der erste Internationale Schelling-Kongress, der im Oktober 1989 in Leonberg stattfand.
14 Jahre vor Schellung wurde H. E. G. Paulus geboren, und so einträchtig ihre Namen auf der Gedenktafel beieinander stehen, so spannungsvoll war ihr Verhältnis, obwohl sie noch zweimal, in Jena und Würzburg, zeitweilig unter einem Dach wohnten. Schellings Vater löste seinen Vorgänger Paulus ab, der durch seinen Hang zur Geisterseherei unhaltbar geworden war.
Der Sohn Heinrich Paulus dagegen wurde der konsequenteste Vertreter des Rationalismus in der Theologie, der vernunftgemäßen Erklärung der Religion, insbesondere der Wunder Jesu. Er verfolgte vor allem die Philosophie des späten Schelling, die ihm als Attentat auf die natürliche Vernunft erschien, mit erbittertem Hass. Noch als 82-Jähriger ließ er unveröffentlichte Vorlesungstexte Schellings mitschreiben und, mit kritischen Bemerkungen versehen, drucken. Schelling strengte einen Plagiatprozess gegen ihn an, den er aber verlor.
Dass eine Tochter von Paulus mit A. W. Schlegel, dem geschiedenen Mann von Schellings Frau Caroline, eine kurze, unglückliche Ehe einging, ist eine weitere merkwürdige Verflechtung im Leben dieser beiden Männer.
Karl Wilhelm Hochstetter starb 31-jährig, als Schelling und Paulus in der Mitte ihres Lebens standen. Dem Diakon Hochstetter, seinem Vater, wurden besondere Gaben in der Seelsorge an Kranken nachgerühmt. Der Sohn wurde Arzt und, nachdem er ehrenvolle Professuren in Deutschland ausgeschlagen hatte, Professor in Bern. Das Leben und die Bedeutung dieses auf den verschiedensten Gebieten hochbegabten Mannes verdiente genauere Erforschung.
So bewahrt das Schellinghaus in Leonberg für seinen Teil das Gedächtnis an fast 300 Jahre schwäbische Pfarrers- und Geistesgeschichte.
Neben dem großen Rundbogentor erinnert eine Gedenktafel an die illustren Hausbewohner und das Einhorn-Wappen an den Besitzer im Jahre 1626, den Leonberger Untervogt Lutherus Einhorn. (Foto: S. Schmidt)
Erstveröffentlichung: Denkmale in der Nachbarschaft – gesehen und besucht im Kreis Böblingen. Röhm Verlag Sindelfingen, 1990.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung
Schelling-Gedenkraum im Leonberger Stadtmuseum
Der Gedenkraum, der 1992 im Geburtshaus des Philosophen eingerichtet wurde, befindet sich nun im Leonberger Stadtmuseum (Pfarrgasse 1). In einer ständigen Ausstellung zeigt der Raum Erstausgaben und Bildnisse des Denkers. Auf mehreren Texttafeln erhält der Besucher einen Überblick über Leben und Werk Schellings.