Spiegel der sozialen Verhältnisse in der Gäugemeinde
Die Gültsteiner Kirchenstuhlordnung von 1788
Autoren: Jürgen Kresin / Andrea Gackenheimer
Etwas wie eine frühe Form der Kirchensteuer war der Verkauf von Kirchenstühlen an die Mitglieder der Gemeinde. Durch den Kauf eines durch Nummerierung klar festgelegten Sitzplatzes wurde der Käufer befristeter Nutznießer desselben, Eigentümer blieb aber die Kirche. Daher war es unmöglich, einen erkauften Platz zu verschenken oder gar weiter zu verkaufen. Außerdem durfte der Stuhl ohne Erlaubnis der Kirchenvorsteher weder verliehen noch getauscht werden. Eine Vererbung an die nächsten Verwandten war möglich, jedoch einer bestimmten Ordnung unterworfen. So konnte ein Vater seinen Stuhl nur an männliche Mitglieder seiner Familie in der Reihenfolgen der Söhne, Schwiegersöhne, Enkel, Brüder vererben, desgleichen eine Mutter nur an weibliche Familienmitglieder.
Im Jahre 1788, vier Jahre nach der Brandkatastrophe, teilte man die Kirchenstühle neu auf und erstellte dafür ein Kirchenstuhl-Register. Daraus soll nun anhand des Grundrisses der Kirche aufgezeigt werden, wo sich die Sitzplätze der wichtigsten Bürger Gültsteins befanden:
Da in der alten abgebrannten Kirche die Kanzel am Chorbogen rechterseits des Altars, vom Chor aus gesehen, stand, „so waren die Gültsteiner Magistratsstühle linker Hand des Altars gerad gegenüber der Kanzel, auf dem terrain.“ Diese wurden von den Ratsmitgliedern von Mönchberg und Gültstein gemeinsam eingenommen. Der Mönchberger Schultheiß Jacob Mayer saß als ältester Richter neben Amtmann Wanner von Gültstein.
„Nachdem aber in der neuen und reparirten Kirche vor schiklich erachtet worden, die Canzel nebst der Sacristey linker Hand des Altars zu errichten, so hat sich der Magistrat zu Gültstein verstanden, ihre Stühl oben auf der Emporbühne rechts der Canzel gegenüber zu nehmen.“ Dem Gemeinderat, wie wir den Magistrat heute nennen, wurde die erste Reihe auf der langen Empore zugesprochen (1), wobei der Schultheiß einen besonderen Platz innehatte. Er saß mit dem Rücken zur Turmwand in einem gut gearbeiteten Stuhl mit hoher Lehne (2). Der Stuhl war mit grünem Samtstoff ausgelegt, an der Lehne war das Gültsteiner Wappen eingestickt. Von hier aus hatte der Schultes einen guten Überblick über seine Gemeinde. Als 1956 neue Kirchenbänke angeschafft wurden, musste dieser besondere Stuhl weichen.
Von 1788 bis kurz vor dem 2. Weltkrieg galt in der Gültsteiner Peterskirche diese genau festgelegte Kirchenstuhlordnung:
Empore: (1) Magistrat (Gemeinderat); (2) Schultheiß; (8) Besitzer des hirsauischen Pfleghofes (Familie Wurster) + Pflegkastenknecht; (10) verheiratete und ledige Männer. Erdgeschoss: (3) Schultheiß + Magistrat von Mönchberg; (4) Witwe von Pfarrer Haas + Frau des Schulmeisters (später: Konfirmanden); (5) Familie des Pfarrers + des Schultheißen; (6) Familie des Kochmüllers; (7) Familie des Dorf-Unsöldmüllers; (9) unkonfirmierte Schüler + Schulmeister. (Aus: Die Peterskirche in Gültstein. 1091 – 1991, Herrenberg 1991, S. 73)
Da Mönchberg zu dieser Zeit von Filial von Gültstein war, war der Mönchberger Rat gehalten, zu bestimmten Zeiten den Gottesdienst in Gültstein zu besuchen. Bei der Neueinteilung der Kirchenstühle kam es zu Streitigkeiten. Schließlich forderte der Schultheiß von Mönchberg für sich und seine Gemeinderäte einen eigenen Stuhl. Ihm wurde „derjenige Stand unter der Canzel, in welchem die Schulmägdlein stehen„, zum künftigen Gebrauch eingeräumt (3). Da der Mönchberger Magistrat nur aus sieben Männern bestand, nahmen die Schulkinder den übrigen Platz ein.
In der Bank davor saßen die Witwe von Pfarrer Haas und die Frau des Schulmeisters (4). Später sollten diese Kirchenstühle den Konfirmanden und Zuhörern vorbehalten sein.
„Auf der rechten Seite vom Altar, grad gegenüber der Canzel unter der Emporkirch in den schräg stehenden Stühl„, war der erste Stand für die Pfarrersfamilie und die Familie des Schultheißen bestimmt (5).
Von den übrigen „Weiberstühlen“ seien noch die Stühle für die Angehörigen des Kochmüllers in der ersten Reihe auf der nördlichen Steite (6) sowie diejenigen Bänke für die Angehörigen des Dorfmüllers (später Unsoldmühle) auf der Südseite (7) zu nennen. Die Müller selbst hatten jedoch einen separaten Platz auf der Empore.
Bis zum Jahre 1750, als die alte Empore im Schiff vergrößert und allgemein für Männer zugänglich gemacht wurde, war die recht schmale Empore nur für den hirsauischen Pfleger bestimmt. Im Jahre 1756 kaufte der Müller Johann Friedrich Gabriel Wurster den hirsauischen Pflegehof zu Gültstein. Zu seinem Eigentum gehörte auch der gedeckte Gang von der Pflegbehausung in den dazugehörigen Kirchenstand. Nach dem Brand wurde eine Orgelempore in den Chor der Kirche gefertigt. Dem inzwischen zum Landmühleninspektor ernannten Müller Wurster wurde daher gestattet, „für sich 2 Stühl auf beyden Seiten der Orgel“ auf eigene Kosten einzumachen. Niemand außer der Wurster’schen Familie und dem Pflegkastenknecht durfte einen Platz auf dieser Empore beanspruchen (8).
Unter der Empore mussten die Schüler, die noch nicht konfimiert waren, unter Aufsicht des Schulmeisters sitzen (9). Die ledigen jungen Männer hatten ihre Stühle bei den übrigen Männern auf der Emporkirche im Schiff (10).
Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der Verkauf der Kirchenstühle und die damit verbundene Kirchenstuhlordnung abgeschafft. Auch heute noch wirkt die Tradition fort. So sitzen überwiegend die Männer auf der Empore, die Frauen unter dem Schiff.
Quelle: Die Peterskirche in Gültstein. 1091 – 1991, hrsg. von der Ev. Kirchengemeinde Gültstein, Herrenberg 1991.
Mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Kirchengemeinde Gültstein