Die Parteien und die nationalsozialistische Machtergreifung in Sindelfingen 1933
Getrennt marschiert und einzeln geschlagen
Autoren: Schülerarbeitsgruppe der Klasse 12 am Goldberg-Gymnasium Sindelfingen
Am 10. März 1933 schrieb die Sindelfinger Zeitung ,,ln dem ehemals so roten und ach so demokratischen Sindelfingen weht die Hakenkreuzfahne vom Rathaus.“ Es war noch keine sechs Wochen her, dass Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war. (…)
Besonders überraschend ist die Reibungslosigkeit, mit der die Machtergreifung vollzogen wurde. Sindelfingen war 1933 ein Städtchen von 6986 Einwohnern (…); dennoch war es schon damals eine Industriestadt. Daimler-Benz war mit 1200 Beschäftigten der größte Arbeitgeber im Ort, außerdem gab es mehrere metallverarbeitende Betriebe (meist Zulieferer für Daimler-Benz), mittelständische Textilunternehmen sowie zahlreiche Handwerksbetriebe und Landwirte.
Auch die politische Einstellung der Sindelfinger Bürger war geprägt durch den hohen Arbeiteranteil, wie die Ergebnisse der Reichstagswahl zeigen. Sindelfingen war eine “rote“ und eine demokratische Gemeinde. „Rot“, weil der Anteil von SPD und KPD zusammen immer höher war als im Reichsdurchschnitt; demokratisch, weil diejenigen Parteien, die die Weimarer Republik bejahten (SPD, DDP, Zentrum) meist mehr Stimmenanteile verbuchten als im gesamten Reich. Bei den ersten Wahlen nach dem Kaiserreich (1919) erreichten die drei Parteien zusammen 84,4 % der Stimmen (im Reich 77 %); im Jahre 1924, also nach Ende der Geburtswehen der Republik, bekamen sie 57 % gegenüber 44 % im Reich (beachtlich ist vor allem das gute Abschneiden der DDP, während das katholische Zentrum im protestantischen Sindelfingen kaum eine Chance hatte). Erst bei den letzten Wahlen der Republik (6. 11. 1932) rutschten die drei Parteien mit 35,5 % unter den Reichsdurchschnitt (36 %), doch das ist nicht in erster Linie auf den Erfolg der NSDAP (21,5 %) zurückzuführen, sondern mehr noch auf den außerordentlich hohen KPD-Anteil (25,5 %). (… )Sindelfingen war also zu Beginn der Regierung Adolf Hitler alles andere als eine Nazi-freundliche Stadt. Und dennoch ging die Weimarer Republik auch bei uns genauso sang- und klanglos unter wie überall in Deutschland.
Am 24. 4. 1933 löste sich die Sindelfinger Ortsgruppe der SPD selbst auf. Nach der Zerschlagung der KPD und dem lautlosen Dahinscheiden der liberalen DDP hatte damit in unserer Stadt, früher als in den meisten anderen Städten Württembergs, der Einparteienstaat begonnen. Dabei hatte die NSDAP in Sindelfingen bis zu Hitlers Ernennung am 30.1.1933 kaum etwas zu bestellen gehabt. (…)
Vor allem die Sindelfinger SPD konnte auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie war am 9. August 1891 gegründet worden und konnte bereits 1903 bei den Landtagswahlen die meisten Stimmen auf sich vereinigen; während der Weimarer Republik hatte sie (…) zwar nur rund 35 Mitglieder, dafür aber beträchtlichen Einfluss auf den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund und die republikanischen Schutzorganisationen “Eiserne Front“ und “Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.“ (…) Die Sindelfinger KPD (ca. 40 Mitglieder) war Anfang 1919 aus der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei hervorgegangen und hatte besonders bei Daimler-Benz starken Einfluss.1 (…)
Die 1983 erschienene Broschüre Die Machtergreifung in Sindelfingen 1933 wurde von einer Schülerarbeitsgruppe der Klasse 12 des Sindelfinger Goldberg-Gymnasiums und ihrem Lehrer Michael Kuckenburg erarbeitet. Titelbild: Collage aus einer Stadtansicht von 1929 und einem SPD Plakat von 1930 nach einer Idee von Axel Reiser
Die Deutsche Demokratische Partei hatte in Sindelfingen eine ihrer Hochburgen. Zu Beginn der Weimarer Republik war ihr Einfluss so stark, dass eines ihrer Mitglieder, der Mechaniker Keppeler, den sozialdemokratischen Vorsitzenden im örtlichen “Bürger- und Bauernrat“ ablösen konnte. Im gleichen Jahr erreichte sie bei den Reichstagswahlen zwar nur 916 Stimmen (die SPD erhielt 1354), dafür errang sie im gleichen Jahr bei den Gemeinderatswahlen 10 Sitze, die SPD nur fünf. Offenbar wollten viele SPD-Wähler die “großen Änderungen“ nur außerhalb Sindelfingens; für die eigene Gemeinde zogen sie das „Gemäßigte“ vor. Erst bei den Gemeinderatswahlen 1928 wurde die DDP-Vorherrschaft in Sindelfingen beendet; 1930 benannte sich die DDP in “Staatspartei“ um.
Es ist bezeichnend für die Situation in Sindelfingen, dass die ersten Nazis, mit denen es Ärger gab, “von auswärts“ kamen. Am 12. 7. 1931 kamen rund hundert SA-Leute aus dem Schwarzwald zu einer Werbekundgebung in den „Schwarzen Adler“. (…) Nach Abschluss der Veranstaltung sangen sie das Horst-Wessel-Lied“, was die anwesenden sozialistischen Arbeiter mit der Internationale“ beantworteten. In die sofort entstehende Prügelei griff die Polizei offenbar höchst einseitig ein, indem sie lediglich linke Arbeiter festnahm und die SA-Leute unbehelligt ziehen ließ. Zu einem ähnlichen Zwischenfall kam es in Böblingen 1932. (…)
Wie man sieht, war die Ablehnung der NSDAP allgemein. Aber wie in ganz Deutschland, so konnten auch in Sindelfingen die Hitler-Gegner nicht zusammenfinden. (…) Aus diesem Grunde soll man die Ergebnisse der letzten freien Wahlen (6. 11. 1932) auch nicht überbewerten. SPD und KPD erhielten zusammen 1567 Stimmen (nimmt man die DDP hinzu, waren es 1786), während die NSDAP nur auf 654 Stimmen kam; aber in Wirklichkeit verbrauchten die nazifeindlichen Parteien einen recht großen Teil ihrer Energien für gegenseitige Angriffe.
Die Uneinigkeit hielt auch nach Hitlers Ernennung zum Kanzler an. Am 30. 1. 1933 veranstaltete die NSDAP-Ortsgruppe (über die wir leider keine Unterlagen besitzen) einen Fackelzug durch die Böblinger (heute Tübinger) Allee: die Gegendemonstration, ebenfalls ein Fackelzug, wurde allein von der KPD durchgeführt. Dafür wurde die große Demonstration vom 26. 2. mit 700 – 800 Menschen, die über Magstadt, Maichingen, Darmsheim, Sindelfingen, Böblingen nach Holzgerlingen führte, allein von SPD und “Eiserner Front“ veranstaltet. Statt einer geschlossenen Gegnerschaft hatten die Nazis weiterhin unter sich zerstrittene Parteien gegen sich, und die konnten sie einzeln aufreiben.
Formal gestützt auf Hindenburgs Notverordnung “Zum Schutz von Volk und Staat“, warfen sie sich zuerst auf die KPD. Am 1. März meldete der KPD-Ortsvorsitzende für den 3. März eine Wahlkundgebung auf dem Rathausplatz an. Aber noch am selben Tage verbot ein Telegramm des Innenministers sämtliche kommunistischen Versammlungen, und das Oberamt Böblingen stellte sofort Landjäger zur Durchführung des Erlasses zur Verfügung. Am 2. März verbot darauf hin Bürgermeister Pfitzer die Versammlung. Parallel dazu begann die Verfolgung bekannter Sindelfinger Kommunisten. Der erste wurde am 1. März verhaftet, bis zum Tage des Ermächtigungsgesetzes (23. 3.) waren mindestens sechs Sindelfinger Kommunisten in das KZ Heuberg2 verschleppt worden. Das Verbot des “Kampfbundes gegen den Faschismus“ und aller kommunistischen Vereine in Württemberg am 14. 3. von Bürgermeister Pfitzer am 15. 3. ausgeführt, hatte kaum noch praktische Bedeutung. Die Sindelfinger KPD war, obgleich nicht formal verboten, durch den ungehemmten Terror bereits zerschlagen.
Anders die Entwicklung der Sindelfinger SPD. Am 13. März hatte der neu ernannte Polizeikommissar von Württemberg, v. Jagow, das “Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ und die “Eiserne Front“ für verboten erklärt, was in Sindelfingen am 15. 3. wirksam wurde; aber in diesem Erlass hieß es ausdrücklich, das Verbot schließe nicht die SPD und die Gewerkschaften ein. Vielleicht hoffte der Ortsverein deshalb, durch stillschweigende Hinnahme aller Provokationen seine Existenz retten zu können.Sollte diese Hoffnung bestanden haben, so wurde sie jedenfalls gründlich enttäuscht. Am 21. 4. meldete der Ortsverein eine Mitgliederversammlung für den 23. 4. an, die Bürgermeister Pfitzer unverzüglich unter Hinweis auf eine bestehende Anordnung verbot. Unter diesen Umständen sahen die Sindelfinger Sozialdemokraten keine Hoffnung für sinnvolle Weiterarbeit mehr; am 25. 4. meldeten sie dem Bürgermeister, ihre Ortsgruppe habe sich am Vortage aufgelöst. Bürgermeister Pfitzer ordnete sogleich die Beschlagnahme des Parteivermögens an. Am 12. 5. wurde die Maichinger Ortsgruppe zwangsweise aufgelöst. (…)
Der christlich-soziale Volksdienst, der es in Sindelfingen bei den letzten Reichstagswahlen (5. 3. 33) noch auf 179 Stimmen gebracht hatte, ging bei der Gleichschaltung des Gemeinderats am 26. 4. ein Wahlbündnis mit der NSDAP ein; im Württembergischen Landtag traten seine beiden Abgeordneten am 5. 7. der NSDAP-Fraktion bei – diesen Schritt hatten die Abgeordneten des Bauernbundes bereits am 4. 5. vollzogen.
Und die liberale DDP? Von der Böblinger Ortsgruppe ist wenigstens bekannt, dass sie sich am 31. 3. freiwillig aufgelöst hat; von der Sindelfinger Ortsgruppe kennen wir nicht einmal das Auflösungsdatum, so rasch und so gründlich ist sie nach dem 30.1.1933 von der Bildfläche verschwunden. Dafür lieferte ihre Fraktion im Reichstag … am 23. 3. mit ihrer Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz den Nazis freiwillig Strick und Galgen. (…) Gestützt auf dieses Gesetz entzog die Landesregierung am 7. 7. allen sozialdemokratischen Mandatsträgern ihr Amt, am 14. 7. erfolgte das Verbot aller Parteien außer der NSDAP.
Für Sindelfingen hatte das zu diesem Zeitpunkt längst keine praktische Bedeutung mehr. Zwischen dem 24. 4. 1933 und dem 21. 4. 1945, dem Tage des Einzugs der Franzosen, war die NSDAP einzige Partei.
Ein kurzer Moment Einigkeit gegen Hitler. 1932 rief ein sog. Bezirks-Arbeiter-Kampf-Ausschuß die werktätige Bevölkerung für den 16. Juli zu einer Demonstration auf dem Böblinger Postplatz auf. (Aus: Die Macht-Ergreifung in Sindelfingen 1933, Sindelfingen 1983, S. 8
Erstveröffentlichung: Die Macht-Ergreifung in Sindelfingen 1933, Röhm-Verlag, Sindelfingen 1983, S. 5-11
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung von Michael Kuckenburg.
Tabellen zu den Reichtagswahlen:
Ergebnisse der Reichtagswahlen in Sindelfingen 1919-1933
Sindelfinger und Böblinger Reichtagswahlergebnisse im Vergleich
Quellen zur Machtergreifung aus dem Sindelfinger Stadtarchiv:
Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, 15. 03. 1933
Vermögensbeschlagnahme Reichsbanner, 15. 03. 1933
SPD-Mitgliederversammlung, 21. 04. 1933
SPD-Selbstauflösung, 25. 03. 1933
Fackelzug NSDAP am 22. 3. 1933
Literaturhinweis:
Fritz Heimberger
Geschichte der politischen Parteien in Sindelfingen
Sindelfinger Jahrbuch 1974
Referenz
↑1 | 1929-1932 stellte sie dort zwei der vier Mitglieder im Arbeiterrat |
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↑2 | Das KZ Heuberg bei Stetten unweit von Hechingen wurde im März 1933 in Betrieb genommen. Ende März waren bereits 1500 Schutzhäftlinge, meist SPD und KPD-Mitglieder dort inhaftiert auch aus dem Kreis Böblingen. Im September 1933 wurde das KZ aufgelöst. Die Wehrmacht übernahm das Lager und nutzte es ab 1942 zur Ausbildung des Strafbataillons 999. |