Kleinod modernen Siedlungsbaus
Die Schnödenecksiedlung in Sindelfingen
Autor: Helmut Schäfer
In unmittelbarer Nähe von Sindelfingens neuem Stolz [der frisch renovierten Stadthalle] liegt eine Siedlung, die architektonisch 70 Jahre nach ihrer Planung immer noch sehenswert ist: die Schnödeneck-Siedlung. Die Stadthalle mit ihrer Tiefgarage schaffte allerdings etwas, was der normale Zeitzahn zuvor nicht erreicht hat, die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude an der Schillerstraße erhielten durch die Tiefbauarbeiten Risse. Keine Angst, sie wurden wieder dicht gemacht. Moderne von 1919 reicht sich über die Straße hinweg mit dem Modernen von 1989 die Hand.
Wie so vieles im Leben steckt hinter dem städtebaulichen Reiz von heute eine damalige Notwendigkeit. Sindelfingen im ersten Aufschwung der Industrialisierung nach der Daimler-Ansiedlung vom Jahr 1915 erlebte eine gravierende Wohnungsnot.1 Wohnungen mußten gebaut werden, sie durften nicht teuer sein und sollten nach Möglichkeit in der Nähe der Arbeitsplätze liegen. Es ist kein Zufall, daß 1919, als der Stuttgarter Architekt Paul Schmitthenner den Planungsauftrag für die Schnödeneck-Siedlung erhielt, gleichzeitig auch der Bau- und Sparverein Sindelfingen gegründet wurde. Seit 1942 heißt er Baugenossenschaft.
Kein Zufall deshalb, weil der damalige Stadtschultheiß Hörmann zu den Gründungsmitgliedern gehörte und Schmitthenner als Architekt beauftragte. Der war Professor an der Technischen Hochschule in Stuttgart und setzte sich intensiv mit der Problematik des zeitgemäßen Wohnungsbaues auseinander. Seine Lösungsvorschläge hatten nicht nur theoretischen Wert, sondern flossen ein in seine gebauten Siedlungen. Die Sindelfinger Schnödeneck-Siedlung gehört dazu.
Schmitthenner formulierte es damals so: “Die Siedlung soll insgesamt so strukturiert sein, daß eine gesunde Mischung verschieden großer Wohnungen entsteht. Weniger aber dafür gute Formen verbilligen den Entwurf und lassen äußerlich sichtbar den Genossenschaftsgedanken erkennen.“ Wichtig vor 70 Jahren war bei der Schnödeneck-Siedlung die Grundidee der Selbstversorgung mittels Garten und Kleintierhaltung. Die handtuchartigen Gärten zwischen Schillerstraße, Uhlandstraße und Hauffstraße sind bis heute erhalten. Sie werden allerdings nicht mehr in dem Maße zur Selbstversorgung genutzt wie damals.
Moderner Siedlungsbau aus dem Jahre 1919: die von Paul Schmitthenner geplante Schnödenecksiedlung. Die Bauleitung hatte der Sindelfinger Architekt Georg Bürkle.
Bauherr der 1919 begonnenen Schnödeneck-Siedlung war der gemeinnützige Bau- und Sparverein. Man sprach damals von einer gesunden Bodenpolitik. Im ersten Bauabschnitt wurden 26 Heimstätten gebaut, 1920 weitere 22 und danach nochmals 32 dazu. Sämtliche Wohnungen sind als Einfamilienhäuser gebaut worden und sind es auch heute noch. Jede erhielt das soziale Minimum der 20er-Jahre: Wohnzimmer oder Eß-Wohnzimmer plus drei Schlafräume. Schmitthenner unterschied in seiner Planung architektonisch in Reihenhäuser und/oder Doppel- und Gruppenhäuser.
Vom Architekten war geplant, die Häuser mit fröhlichen Farben zu versehen. Dies scheiterte an der Kostenfrage. Trotzdem wurde eine optische Wirkung erreicht; Holzwerk, Fenster und Türen erhielten Farbe. Die Farben von damals sind inzwischen verblaßt, genauso der Plan der Sindelfinger Stadtverwaltung von 1989, die Schnödeneck-Siedlung direkt in das Gartenschaugelände einzubeziehen. Die denkmalgeschützten Häuserzeilen gegenüber der Stadthalle bilden “nur“ eine städtebaulich attraktive Randkulisse für das Grün- und Blumenspektakel im Sommer 1990.
Nichts geändert hat sich dagegen an den architektonischen Besonderheiten der Schnödeneck-Siedlung in Sindelfingen. Das sind die Dachformen mit ihren walmdachähnlichen Gauben, die als Einheit gestalteten Doppel-Hauseingänge und die schon erwähnten handtuchartigen Gärten. Allerdings, Sindelfingen ist spezifisch nach dem Zweiten Weltkrieg enorm gewachsen. Die Schnödeneck-Siedlung war 1919 als Vorstadt-Siedlung im Osten in drei Bauabschnitten im Gewand Schnödeneck konzipiert. Heute ist sie klassische Stadtmitte, das Herz Sindelfingens.
Geblieben ist die Erschließung. Längsseits bilden wie damals die Burghaldenstraße auf der einen und auf der anderen Seite Vaihinger Straße beziehungsweise Arthur-Gruber-Straße (früher Jahnstraße) den Rahmen. Neu hinzugekommen sind die querlaufenden Erschließungsstraßen namens Schiller-, Uhland- und Hauffstraße. Dazu kommt das halböffentliche Fußwegesystem, als Mistwege in die Historie eingegangen. Sie lassen eine axiale Struktur erkennen, deren Symmetrieachse durch zwei platzartige Erweiterungen an der Schillerstraße beziehungsweise Uhlandstraße markiert wird.
Die Schnödeneck-Siedlung behielt als erste Siedlung Sindelfingens überhaupt ihren eigenständigen Charakter – bis heute. Wenngleich auch zeitbedingte bauliche Veränderungen „im Busche“ liegen. Denn so schön es ist, in einem denkmalgeschützten Gebäude im Herzen der Stadt zu leben, so sind auch die Wohnbedürfnisse gestiegen. Sie führen zu dem, was der Ausgangspunkt zur Entstehung der Schnödeneck-Siedlung damals war und was Sindelfingen heute “auszeichnet“ – nämlich akute Wohnungsnot. Der Unterschied ist nur, ein Areal wie das Schnödeneck in dieser Lage hat die Stadt nicht mehr zu bieten.
Erstveröffentlichung: Denkmale in der Nachbarschaft – gesehen und besucht im Kreis Böblingen.Röhm Verlag Sindelfingen 1990, S. 59 - 60.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Referenz
↑1 | Innerhalb weniger Jahre waren die Beschäftigtenzahlen beim Daimler sprunghaft in die Höhe geschnellt. Ausgehend von 227 Personen im Januar 1917 erreichte die Belegschaft Anfang Nov. 1918 mit etwa 5600 Beschäftigten ihren Höchststand und überstieg damit auch die Gesamteinwohnerzahl Sindelfingens. Siehe hierzu: Horst Zecha, Aus der Geschichte des Daimler-Werkes Sindelfingen, in: Sindelfinger Fundstücke, Sindelfingen 1991, S. 101 - 113. |
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