Holzgerlingen in der Böblinger Oberamtsbeschreibung von 1850
„Die meisten Brunnen im Ort haben hartes Wasser“
Autor: Karl Eduard Paulus
Holzgerlingen, ein Pfarrdorf mit Marktgerechtigkeit, zu dem der Schaichhof, die obere, die mittlere und die untere Mühle gehören.
Der große beinahe ¼ Stunde lange ziemlich regelmäßig gebaute Ort mit 1818 evang. und 14 kathol. Einwohnern, liegt 1 Stunde südlich von der Oberamtsstadt frei und doch am oberen Rande des hier mit mehreren Einschnitten beginnenden Aichthals, in das man, besonders vom Kirchthurme aus, eine sehr ansprechende Aussicht genießt. In neuerer Zeit hat derselbe durch die Herstellung gut gekandelter reinliche Ortsstraßen, wie durch die Wiederinstandsetzung mehrerer Wohnhäuser an äußerem Ansehen gewonnen; übrigens sind ein großer Theil der Häuser alt und meist zu Ende des 16. und Anfangs des 17. Jahrhunderts erbaut.
Die ansehnliche Pfarrkirche mit ihrem weithin sichtbaren Thurme liegt an der Hauptstraße beinahe in der Mitte des Dorfs. Sie ist im spät germanischen1 Style erbaut und die auf der Südseite über dem spitzbogigen Eingang angebrachte Jahreszahl 1473 wird die Zeit ihrer Erbauung angeben. … Im Innern ist sie nicht sehr hell und auch für die stark zunehmende Gemeinde bald nicht mehr geräumig genug. Die flach getäfelte Decke ist bemalt und an den Brüstungen der Emporkirchen sind werthlose Gemälde, Scenen aus der biblischen Geschichte vorstellend, angebracht. … In den 60ger Jahren des vorigen Jahrhunderts schlug der Blitz in das Dach und verbrannte dasselbe nebst dem ganzen hölzernen Einbau des Thurms; er erhielt dann statt seines früheren Pyramidendachs, auf dessen Ecken je ein kleines Thürmchen stand, ein einfaches ziemlich hohes Zeltdach. (…)
Das geräumige nur 60 Schritte nördlich von der Kirche gelegene, gelb getünchte Pfarrhaus ist massiv von Steinen erbaut und bildet mit dem Oekonomiegebäude, Garten und ummauertem Hofraum einen stattlichen und zugleich freundlichen Pfarrsitz. Es soll ehedem ein Jagdschloß der Herzoge von Württemberg gewesen seyn. … Südlich der Kirche, an die alte Kirchhofmauer angebaut, steht von allen Seiten frei, das 1811 mit einem Gemeindeaufwande von 4000 fl.2 neu erbaute Schulhaus mit Lehrerwohnung. An der Schule unterrichten ein Schullehrer, 1 Unterlehrer und 1 Lehrgehilfe. Eine Industrie- und eine Kleinkinder-Schule bestehen auf Gemeindekosten. Das im Jahre 1833 mit einem Aufwand von 8000 fl. neu erbaute, stattliche Rathhaus3 liegt östlich der Kirche an der Hauptstraße; in ihm befindet sich zugleich 1 Schulzimmer und die Wohnung des Unterlehrers. Seit 4 Jahren besteht ein Gemeindebackhaus mit Obstdörre. Am südlichen Ende des Orts steht mit einem breiten Wassergraben umgeben das Schloß Kalteneck, dessen unteres massives Stockwerk mit Strebepfeilern noch von der ehemaligen festen Burg übrig geblieben ist. … Der gegenwärtige Besitzer erbaute im Jahre 1849 jenseits des Wassergrabens eine Färberei, die er nun betreibt.
Die Luft ist gesund und Trinkwasser in hinreichender Menge vorhanden. Am Rathhaus, nach der Sage unter der Kirche, entspringt mit einer starken, klaren, in einem dauerhaften Gewölbe gefaßten Quelle, die Aich, sie erhält bald mehrere Zuflüsse und treibt noch auf der Markung die obere, mittlere und untere Mühle. Die meisten Brunnen im Ort haben hartes Wasser, welches dem Vieh, besonders den Pferden, die es nicht gewöhnt sind, nachtheilig wird. Die Fuhrleute tränken daher ihre Pferde entweder gar nicht im Ort oder führen sie zum Schloßbrunnen, dessen vorzügliche Quelle in der Nähe des Schlosses entspringt. Die ¼ Stunde nordwestlich vom Ort entspringende Ludlenbadquelle hat ebenfalls vortreffliches Wasser; hier stand früher ein Bad, das Ludlenbad genannt, von dem man vor 18 Jahren noch Grundreste aufdeckte. Das beste Wasser liefert ein, nur einige 100 Schritte südlich vom Ort liegender Brunnen, der sogenannte Häseltrog.
Die fleißigen, sparsamen und religiös gesinnten Einwohner haben eine dauerhafte Gesundheit und erreichen trotz ihrer im Durchschnitt dürftigen Lebensweise häufig ein sehr hohes Alter. Ihre ökonomischen Verhältnisse sind im Allgemeinen befriedigend, die Mittel ihres Auskommens bestehen hauptsächlich in Feldbau und Gewerbe.
Die Feldgüter liegen theils auf dem ebenen Plateau, theils an den Thalabhängen der Aich, der Würm und der Seitenthäler derselben. Der im Allgemeinen naßkalte, weniger fruchtbare und etwas schwer zu bebauende Boden besteht auf der Ebene aus Lehm, dem bald Thon oder Liaskalkstein zur Unterlage dienen; an den Abhängen herrscht Thon und Keupermergel vor. Frühlingsfröste stellen sich häufig ein, daher feinere Gewächse, wie Bohnen, Gurken etc. leicht erfrieren, dagegen ist Hagelschlag in neuerer Zeit selten.Ungeachtet dieser nicht ganz günstigen natürlichen Verhältnisse wird doch durch unermüdeten Fleiß und gute Bewirthschaftung dem Boden das Möglichste abgewonnen; … Früher wurde an einem südlichen Abhange Weinbau betrieben, den man vor etwa 10 Jahren wegen des schlechten Ertrags vollends aufgab. Die Obstzucht ist bedeutend und hat in neuerer Zeit, …, sehr zugenommen.
Von den Gewerben sind besonders 4 Fabriken zu nennen, in welchen leinene und baumwollene, sogenannte Herrenhuter Bänder gefertigt werden; sie beschäftigen etwa 60 – 70 Personen, meist weiblichen Geschlechts, was für die Gemeinde von großem Nutzen ist, da sich nicht selten ein Mädchen 100 – 140 fl. jährlich verdienen kann. Der Absatz der gefertigten Waaren geht in das In- und Ausland. Eine Möbelzeugfabrik mit sogenannten Jacquardmaschinenstühlen, die 12 – 16 Ortsangehörige beschäftigt, wird mit gutem Erfolg betrieben. Am nördlichen Ende des Dorfs steht eine Ziegelhütte, die nicht nur für den Ort, sondern auch für die Umgegend arbeitet. Außer diesen sind die gewöhnlichen Gewerbe, besonders die Weberei durch tüchtige Handwerker vertreten; die Weber, deren es etwa 150 sind, arbeiten in Zeuglen4, Hosenzeugen etc. für auswärtige Fabrikanten. Uebrigens stehen in Folge der allgemeinen Gewerbestockung gegenwärtig viele Stühle leer und manchem emsigen Meister fehlt Arbeit und Verdienst. Im Ort befinden sich zwei Schildwirthschaften5, 2 Kaufleute und 2 Krämer. (…)
Holzgerlingen war Reichsgut, welches wohl mit dem Besitze des Forstes Schönbuch zusammenhing. K. Heinrich II. schenkte 1007, November 7., zu dem Bisthum Bamberg, welches er gerade gründete, locum proprietatis suae Holzgerninga in pago Glehuntra in comitatu Hugonis6 (von Tübingen). … Vom Reiche kam die Hoheit über Holzgerlingen an die Pfalzgrafen von Tübingen, welche hier noch einzelne Erwerbungen machten. …
Vasallen von diesen Tübinger Pfalzgrafen und deren Rechtsnachfolgern, den Grafen von Württemberg, waren die Herren und Vögte von Holzgerlingen, welche mit den Herren von Gerlingen (Oberamts Leonberg) stammverwandt waren, und ein und dasselbe Wappen (zwei Halbmonde) führten, wie solches auch die Herren von Altdorf und Breitenstein hatten. … Von diesen Herren machte Württemberg zu verschiedenen Zeiten einzelne Erwerbungen. (…)
Quelle: Beschreibung des Oberamts Böblingen. Herausgegeben von dem königlichen topographischen Bureau. Stuttgart und Tübingen 1850
Der Text wurde gekürzt.
Im Jahre 1820 wurde auf Dekret König Wilhelms I das königliche statistisch-topographische Bureau in Stuttgart gegründet. Zwischen 1824 und 1886 entstanden dort Beschreibungen aller 64 württembergischen Verwaltungsbezirke und ihrer Gemeinden. Als 26. Band erschien 1850 die Beschreibung des Oberamts Böblingen. Auf dem Internet-Portal Wikisource kann diese bereits vollständig abgerufen werden. Hier finden Sie auch Eine ungekürzte Version der Beschreibung von Holzgerlingen.
Referenz
↑1 | germanisch im damaligen Sprachgebrauch Synonym für gotisch |
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↑2 | 1 Gulden (fl) = 60 Kreuzer (kr). Nach der Währungsumstellung entsprach 1 Gulden ca. 1,71 Mark. Legt man für eine grobe Währungsumrechnung bestimmte aktuelle Lebensmittelpreise zugrunde, dürfte ein Kreuzer etwa den Gegenwert von 0,80 gehabt haben. Die Guldenwährung im süddeutschen Raum bestand von ca. 1550 - 1875. |
↑3 | Das heutige Rathaus ist eine Rekonstruktion des 1945 zerstörten Vorgängerbaus. |
↑4 | Im Unterschied zu den Leinenstoffen sind Zeuglen einfache, bäuerliche Baumwollstoffe, manchmal auch als Gemisch mit Wolle. |
↑5 | Schildwirtschaften waren, im Gegensatz zu Straußenwirtschaften, berechtigt, Gäste zu beherbergen und zu bewirten. Straußenwirtschaften waren nur zu gelegentlichem Ausschank, meist im Herbst, berechtigt. |
↑6 | lat. für ein Ort unserer Eigentümer mit Namen Holzgerlingen, im Gau Gelhuntare und in der Grafschaft des Grafen Hugo gelegen. |