Bis 1913 ohne Anschluss an die „neue Zeit“
Sindelfinger Eisenbahngeschichte
Autor: Horst Zecha
In seiner „Sindelfinger Industriegeschichte – erzählt entlang der Bahnhofstraße“ beschäftigt sich Horst Zecha mit dem interessanten Phänomen, dass an der Sindelfinger Bahnhofstraße weit und breit kein Sindelfinger Bahnhof zu finden ist. Lesen Sie im folgenden, wie es dazu kam und warum die Sindelfinger Bahnhofstraße zum Böblinger Bahnhof führte:
(…) Eine entscheidende Voraussetzung für die industrielle Entwicklung war die Verkehrsanbindung, denn die technischen Einrichtungen und die Kohle, die zum Betrieb von Dampfmaschinen benötigt wurden, mussten ja zunächst einmal vor Ort gebracht werden. Und das Transportmittel, das um die Mitte des. 19. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang in den Vordergrund rückte, war die Eisenbahn. Ein Eisenbahnanschluss war für eine zügige industrielle Entwicklung eine unabdingbare Voraussetzung und so finden wir auch Sindelfingen um 1870 in einem Wettbewerb mit zahlreichen anderen Städten um eine möglichst vorteilhafte Linienführung bei geplanten Bahnprojekten.
Beachtlich erscheint mir, dass die Bemühungen um einen Eisenbahnanschluss in engem Schulterschluss mit Böblingen erfolgten. Während das Konkurrenzverhalten der beiden Städte oft genüsslich beschrieben und anekdotisch ausgeschmückt wird, finden wir gerade bei diesem wichtigen Projekt eine über weite Strecken gute und effektive Kooperation. Das mag auf Sindelfinger Seite vielleicht auch den einfachen Grund gehabt haben, dass man sich schon frühzeitig keine ernsthaften Hoffnungen machen konnte, einen Bahnanschluss für die Stadt alleine zu bekommen. Die Gäubahn nämlich, die vom Schwarzwald kommend über Herrenberg nach Stuttgart führen sollte, war von Anfang an so geplant, dass sie zwischen den beiden Städten Böblingen und Sindelfingen hindurchführen und somit beide mit einem gemeinsamen Bahnhof versorgen sollte. Geplant war dieser Bahnhof in einer ersten Variante in der Senke zwischen dem Sindelfinger Goldberg und dem Böblinger Galgenberg, etwa dort, wo sich heute die freie Fläche neben dem Parkhaus der S-Bahnstation Goldberg befindet. Dieser Standort befand sich zwar auch schon auf Böblinger Gemarkung und lag näher am Stadtzentrum der Kreisstadt als an dem Sindelfingens, doch hätte man sich auf Sindelfinger Seite für diese Lösung durchaus erwärmen können.
Aus Kostengründen und wohl auch auf Wunsch von Böblinger Industrieunternehmen wanderte der Bahnhofsstandort bei den weiteren Planungen immer weiter Richtung Böblingen. Letztendlich bestimmte die Eisenbahnverwaltung den endgültigen Standort in unmittelbarer Nähe der Böblinger Zuckerfabrik. Damit konnte natürlich keine Rede mehr von einem gemeinsamen Bahnhof sein, aber selbst die Böblinger waren mit dieser Lösung nicht zufrieden, war doch nun der Bahnhof auch auf ihrer Seite von der Stadtmitte abgerückt. Doch alle gemeinsamen Proteste fruchteten nicht, und der Bau des Bahnhofes wurde an der Stelle verwirklicht, an der der Nachfolgerbau heute noch steht. Als die Gäubahn 1879 eingeweiht wurde, hatten sich für Sindelfingen damit zunächst die Hoffnungen auf einen Anschluss an die „neue Zeit“ zerschlagen. Und auch die Bemühungen, wenigstens eine Straßenverbindung zum Böblinger Bahnhof auf Staatskosten zu erhalten, blieben erfolglos.
Altes Bahnhofsgebäude in Sindelfingen
Wollte man in der gewerblichen Entwicklung nicht noch weiter hinter Böblingen zurückfallen, blieb dem Sindelfinger Stadtschultheißen Frank gar nichts anderes übrig, als das Projekt einer Verbindungsstraße zum Bahnhof Böblingen nun in städtischer Regie zu verwirklichen. (…) [Der Gemeinderat] entschied sich letztendlich für einen kompletten Straßenneubau, der den Sindelfinger Marktplatz und den Böblinger Bahnhof auf kürzestem Wege verbinden sollte. So entstand 1883/84 auf der Trasse des bereits vorhandenen Fußweges die etwa 2,25 km lange Bahnhofstraße. Die Gesamtkosten für den Bau beliefen sich auf 160.000 Reichsmark.
Bei Gesamtausgaben des städtischen Haushalts, die zur damaligen Zeit durchschnittlich bei etwa 250.000 Mark pro Jahr lagen, eine mächtige Kraftanstrengung für die Stadtgemeinde – aber auch eine Investition, die sich schon bald in mehrfacher Hinsicht auszuzahlen begann. Zum einen zeigte die Personenfrequenz, welch dringendes Bedürfnis eine direkte Verbindung von Sindelfingen nach Böblingen gewesen war, denn um 1890 benützten jährlich etwa 12.000 Personen die Postkutschenverbindung auf der Bahnhofstraße. Zum anderen beschleunigte sich durch den Bau der Bahnhofstraße die lang ersehnte Mechanisierung und Ansiedlung weiterer Industriebetriebe. (…)
Offensichtlich war die Beschwerde mehrerer Fabrikanten über die schleppende Postbeförderung zwischen dem Bahnhof Böblingen und Sindelfingen Anlass für den Sindelfinger Gemeinderat, sich um die Jahreswende 1904/05 Gedanken über eine grundlegende Verbesserung der Verkehrsverbindung zu machen. (…)
Nachdem die königliche Generaldirektion für Post und Telegrafen offensichtlich kein Interesse an der vorgeschlagenen Lösung gezeigt hatte und auch die Überlegung, die Busverbindung durch eine Betreibergesellschaft mit Beteiligung der Stadt einzurichten an wirtschaftlichen Überlegungen gescheitert war, entschloss sich der Gemeinderat im Mai 1905 zur Flucht nach vorn und sprach sich einstimmig dafür aus, die Anschaffung von zwei Omnibussen und den Betrieb der Busverbindung komplett in städtischer Regie zu übernehmen. Vermutlich war auch diese Entscheidung maßgeblich von Stadtschultheiß Hörmann mitbeeinflusst, der sich seit seinem Amtsantritt 1895 allen technischen und wirtschaftlichen Neuerungen sehr aufgeschlossen zeigte. (…)
Nachdem der Fahrpreis für eine Einzelfahrt auf 15 Pfennig und für eine Arbeiterwochenkarte auf 80 Pfennig festgelegt worden war, konnte die Busverbindung am 1. Dezember 1905 in Betrieb genommen werden. So hatte die fehlende Bahnanbindung den Sindelfingern einen besonders frühzeitigen Einstieg in die Motorisierung und in den kommunalen Nahverkehr gebracht. (…)
Selbstverständlich verloren aber die Sindelfinger neben allen Bemühungen um eine Verbesserung der Verkehrsverbindung auf der Bahnhofstraße die Bemühungen um einen Bahnanschluss niemals aus dem Auge. Es bedurfte allerdings noch vielfacher Eingaben, Planungen, Umplanungen und erneuter Eingaben, bis am 10. Februar 1913 schließlich der erste Spatenstich zur Bahnlinie „Böblingen – Renningen“ [Rankbachbahn] getan wurde, die nun endlich auch Sindelfingen den ersehnten Bahnanschluss bringen sollte – auch wenn es sich nur um eine eher unbedeutende Nebenbahn handelte.
Noch bevor allerdings die Bahnlinie vollendet war, brach im August 1914 der Erste Weltkrieg aus und gefährdete den Weiterbau. Da die Omnibusse zu Kriegsbeginn requiriert worden waren, stand Sindelfingen zunächst wieder einmal ohne brauchbare Verkehrsverbindung da. Angesichts dieser Situation wurde dann doch dem dringenden Wunsche des Sindelfinger Gemeinderat entsprochen und am 23. Dezember 1914 wenigstens das Teilstück von Böblingen nach Sindelfingen in Betrieb genommen, die Eröffnung der ganzen Strecke bis nach Renningen erfolgte im Oktober 1915. Zu dieser Zeit hatte in Sindelfingen schon das Daimler-Zeitalter begonnen. Ob der kurze Zeit zuvor endlich fertiggestellte Bahnanschluss als Standortfaktor eine Rolle bei der Ansiedlung des Daimler-Werkes im Sommer 1915 gespielt hat, muss dahingestellt bleiben. Was nun an Industrialisierung gewissermaßen über Sindelfingen hereinbrach, hatte zweifellos ganz andere Dimensionen als die bisherige Entwicklung. (…)
Erstveröffentlichung: Horst Zecha, Sindelfinger Industriegeschichte – erzählt entlang der Bahnhofstraße. In: Aus Schönbuch und Gäu - Beilage der Kreiszeitung/Böblinger Bote, 2. Heft 2002, S. 1-4.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Der Autor, Horst Zecha, ist Historiker und leitete viele Jahre das Sindelfinger Stadtarchiv und das Stadtmuseum. Heute ist er Kulturamtsleiter der Stadt Sindelfingen.
Eine ungekürzte Text-Version des Aufsatzes von Horst Zecha “Sindelfinger Industriegeschichte – erzählt entlang der Bahnhofstraße„ können Sie hier als pdf-Datei herunterladen.
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Literaturhinweis:
Ausführlich zur Frage des Sindelfinger Bahnanschlusses siehe Fritz Heimberger, Die Sindelfinger Eisenbahn, in: Jahrbuch der Stadt Sindelfingen 1964, S. 285ff.