Wilhelm Ganzhorns Geniestreich
Im schönsten Wiesengrunde
Autor: Ulrich Holthausen
Es ist eines der wohl bekanntesten deutschen Gedichte und meist gesungenen Volkslieder: „Im schönsten Wiesengrunde“ … . Doch dass sein Dichter Wilhelm Ganzhorn (1818-1868) in Böblingen geboren wurde und Sindelfingen zeitlebens als seine Heimat betrachtete, in Sindelfingen sogar mal fast zum Bürgermeister ernannt worden wäre, auf Sindelfinger Gemarkung interessante archäologische Grabungen durchführte, wird ausgerechnet hier in Sindelfingen und Böblingen kaum beachtet. Und mit „etwas Pech“ liegt dieses stille Tal auch noch auf Sindelfinger Gemarkung.
Bei einem literarischen Spaziergang, natürlich über den Wilhelm-Ganzhorn-Weg, wird am 9. Juni der Sindelfinger Lehrer Klaus Phillippscheck den Dichter und Richter skizzieren: Wilhelm Ganzhorn war sicher keiner der großen Dichterfürsten und auch kein Pfeiler der deutschen Revolution von 1848/49, aber ein typischer Vertreter schwäbischen Bildungsbürgertums und der Geistesgeschichte des schwäbischen 19. Jahrhunderts.
Einerseits die starke, unendliche Liebe zur schwäbischen Heimat und zugleich die Sehnsucht nach der Ferne, die sich in den zahllosen Reisen manifestiert. Der fröhliche Zecher und andererseits der einsame, nachdenkliche Melancholiker. Komplex die Widersprüchlichkeit auch in der Lebenshaltung des pessimistischen, des pietistischen Schwaben und des geselligen Gastgebers in seinem berüchtigt feuchtfröhlichen Haus. Typisch aufmüpfiger schwäbischer Querdenker in seinem eigenwilligen politischen Engagement für die 1848er-Revolution aus der Sicherheit eines beamteten Richters.
Wilhelm Ganzhorn wurde am 14. Januar 1818 in Böblingen geboren, vermutlich auf dem Schloss. Dort war Vater Johann Georg als Schlossinspektor beschäftigt. Die mütterliche Linie Catharina Margaretha geborene Maisch (als dessen zweiter Ehefrau) führt übrigens über die Kuppingerin Christina Sprenger zum Weil der Städter Bürgermeister Sebald Kepler und dessen berühmten Enkel, dem Astronom Johannes Kepler.
Als die Stadt Böblingen 1822 das fürstliche Schloss erwirbt, kehrt Vater Ganzhorn nach Sindelfingen zurück, das er als eigentliche Heimat ansah. Denn schon etwa 1640 ist der Stammvater Georg aus der Nähe von Zavelstein nach Sindelfingen gezogen. Und noch heute ist Ganzhorn (eigentlich: Ganzhörner) ein hier gegenwärtiger Name.
1826 erwirbt der Vater das Anwesen Stuttgarter Straße 1 (heute Vaihinger Straße 1). Hier verlebt Wilhelm Ganzhorn seine Kindheit und Jugend. Er ging in die Lateinschule im Gebäude, das heute Ernst-Schäfer-Haus heißt, bis er zur Lateinschule mit Lehrern wie Professor Osiander oder Gustav Schwab nach Stuttgart wechselte.
Wilhelm Ganzhorn um 1862. (Foto: privat)
Nach der Schulzeit war es der Amtsnotar und spätere Sindelfinger Schultheiß Albert Fink, der Wilhelm Ganzhorn zur Jurisprudenz brachte. Von 1837 an studiert Wilhelm Ganzhorn also die Rechtswissenschaften in Tübingen. Hier gibt es auch erste schriftstellerische Versuche: Naturlyrik, Liebesgedichte, Stückversuche ohne nachhaltige Bedeutung.
Nur für ein Semester geht Wilhelm Ganzhorn 1840 nach Heidelberg. Dort erlebt er nicht nur seinen Dichterfrühling, beschwingt von der Stadt, fasziniert von der Rheinlandschaft und beseelt vom Rheinwein. Es entwickelt sich auch eine lebenslange, enge Freundschaft zu dem Vormärzdichter und Revolutionär Ferdinand Freiligrath. Er wird Ganzhorns literarischer Ratgeber und harter Kritiker: „Zu unbestimmt und allgemein liederlich“, lautet sein Urteil.
Ein Vorwurf, den Wilhelm Ganzhorn auch mit seinen späteren Arbeiten nie ganz entkräften wird, auch wenn ihm noch der geniale Schlag gelingen soll. In der Zeit der beginnenden sozialen Umwälzungen beschäftigt sich Wilhelm Ganzhorn jetzt aber auch mit dem Los der Arbeiter. Er schreibt ein Gedicht zur Hinrichtung von Robert Blum im November 1848. Und betätigt sich durchaus nicht nur literarisch an der Revolution. Ist bei Wahlveranstaltungen im Vorstand des Vaterländischen Vereins für eine republikanische Staatsform und demokratische Rechte aktiv. Als Amtsrichter in Neuenbürg im Schwarzwald.
Im September 1840 hatte er sich zur Vorbereitung auf das juristische Staatsexamen nochmals eine Weile in Sindelfingen im leer stehenden Pfarrhaus aufgehalten. Und auch seine literarischen Neigungen sind seit dem Erscheinen einiger Gedichte in verschiedenen Anthologien seit Juni 1841 längst publik geworden.
Sein literarisches Schaffen bleibt auch fern von Sindelfingen rege, wenn auch nicht sonderlich bedeutsam. Doch 1851 soll ihm der große Wurf gelingen, der ihn unsterblich machen wird: „Im schönsten Wiesengrunde…“. Zurück auf den Lebensweg eines Juristen hatte ihn ein nachrevolutionärer Fallrückzieher („Habe den Richterberuf begriffen“) vor der Stuttgarter Staatkanzlei gebracht: Neuenbürg (1844 bis 1854), Oberamtsrichter in Aalen, wo er heiratet, dann ab 1859 in Neckarsulm.
Überall erwirbt er sich den Ruf eines geselligen Gastgebers. Männer der Zeit wie Viktor von Scheffel, die Afrikaforscher Carl Mauch und Gustav Nachtigal, der Arzt und Entdecker des Wärmeäquivalents, Robert Mayer, verkehren in seinem Haus. Und in diesem Freundeskreis erwirbt er sich auch den Ruf eines standfesten Zechers: „ein rechter Biedermeier“ (Ludwig Eichrodt). Wilhelm Ganzhorn gerät in den Bann der Altertumsforschung, ist für einige Jahre in Neckarsulm Vorstand des „Historischen Vereins für das württembergische Franken“, den übrigens mit Ottmar Schönhuth ein Sindelfinger gegründet hatte.
Erfolgreiche archäologische Grabungen macht Wilhelm Ganzhorn zu dieser Zeit auch auf Sindelfinger Gemarkung. So öffnet er einen Grabhügel auf dem Fuchsberg. Überhaupt ist wohl zu keiner Zeit die Verbindung des ebenso reiselustigen wie geselligen Mannes zu Sindelfingen und seinen Verwandten hier abgerissen. 1850 hat sich Wilhelm Ganzhorn sogar um die Nachfolge von Stadtschultheiß Conz in Sindelfingen beworben. Als Kandidat der liberal gesinnten Bürger unterlag er allerdings dem Konservativen Gottfried Frank.
Geschrieben hat Wilhelm Ganzhorn seit seiner Hochzeit kaum noch. Erst mit dem sich wieder vertiefenden Kontakt mit Ferdinand Freiligrath, der 1868 nach Deutschland zurückkehren kann, entstehen wieder reichliche Arbeiten: Balladen und Gelegenheitsgedichte zu festlichen Anlässen, deren Zusammenfassung durch Wilhelm Ganzhorns sogar in einem Extrablatt vom 9. September verkündeten plötzlichen Tod in Cannstatt nicht mehr zustande kam.
Das stille Tal
„Im schönsten Wiesengrunde
ist meiner Heimat Haus;
ich zieh zur Morgenstunde
ins Tal hinaus.
Dich, mein stilles Tal,
grüß ich tausendmal.
Ich zieh zur Morgenstunde
ins Tal hinaus.“
Das ist die erste Strophe, die Wilhelm Ganzhorn im November 1851 gedichtet hatte. Gelebt hat er zu dieser Zeit in Neuenbürg im Schwarzwald aber sicher ist, dass er auch in diesem Jahr seine Ferien in Sindelfingen verbracht hat. Zwar soll es eine Aussage Ganzhorns geben, das Gedicht habe sich bei einem Gang durch „das in der Nähe befindliche liebliche Tal auf die Seele und in den Mund“ gelegt, aber sicher bewiesen ist nichts.
Der Standort der alten Sindelfinger Gaststätte „Zum Wiesengrund“ an der ehemaligen Tübinger Allee scheint wegen der damals großen Mühle dort auszuscheiden: Dafür haben Forscher das Haus des Großvaters, die Stegmühle im Würmtal bei Döffingen, als ernstzunehmenden Konkurrenten für Sindelfingen oder Neuenbürg ausgemacht.
Das berühmte Gedicht in der Handschrift von Wilhelm Ganzhorn, mit dem ursprünglichen Titel „Das stille Thal“. Die Handschrift befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. (Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar)
Erstveröffentlichung: Sindelfinger Zeitung vom 1. Juni 2002
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Für die Reproduktion der Handschrift von Wilhelm Ganzhorns Das stille Thal bedanken wir uns beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Im Deutschen Literatur Archiv befindet sich auch eine interessante Handschrift mit eigenhändigen Korrekturen Wilhelm Ganzhorns.
Der Autor Ulrich M. K. E. Holthausen arbeitete als Journalist und Schriftsteller und betrieb viele Jahre lang in Mauren das ehemalige Ausflugslokal “Grüner Baum“.
Literatur:
Zur Beschäftigung mit Wilhelm Ganzhorn empfehlen wir ausdrücklich das neue, ausführliche Werk von Jürg Arnold: Wilhelm Ganzhorn – Dichter des Liedes „Im schönsten Wiesengrunde. Leben, Gedichte, Familien, Ahnen. Ostfildern 2004. Zu Bestellen über Müller & Gräff, Stuttgart, Calwer Str. 54. Erhältlich auch bei den Städten Böblingen und beim I-Punkt der Stadt Sindelfingen (Preis: 25,00 ).
Zum 100. Geburtstag von Wilhelm Ganzhorn haben die Städte seiner Herkunft, Geburt und Wirkens Sindelfingen, Böblingen, Neckarsulm und Bad Cannstatt eine vom Schiller-Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv in Marbach zusammengestellte Ausstellung gezeigt, die am 31. Januar 1981 in Böblingen von Dr. Jürg Arnold eröffnet wurde. Zu diesem Anlass erschien eine kleine Broschüre, in der erstmals ein Faksimile der Handschrift von Wilhelm Ganzhorns Im schönsten Wiesengrunde veröffentlicht wurde. Restbestände dieser Broschüre sind im Stadtarchiv Sindelfingen erhältlich.