Erwerbszweig für ärmere Einwohner
Gipsabbau in Eltingen
Autorin: Susanne Schmidt
Zum wichtigsten Erwerbszweig neben der Landwirtschaft entwickelte sich in Eltingen im 19. Jahrhundert die Gipsgewinnung. Angesichts der anhaltenden Krisensituation in der württembergischen Landwirtschaft und der zunehmenden Massenarmut wuchs die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt aus verschiedenen Quellen zu speisen. So waren es auch in Eltingen insbesondere Kleinbauern und Minderbemittelte, die sich in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Gipsabbau zuwandten. Eine vergleichbare Entwicklung finden wir zu dieser Zeit auch in Rohrau, das damals zum Oberamt Herrenberg gehörte.
Der Eltinger Heimatforscher Konrad Fröschle konnte bei Durchsicht der Katasterbücher zwischen 1800 und 1910 an nicht weniger als 27 Stellen Gipsmühlen ausmachen. In der Eltinger Oberamtsbeschreibung von 1852 ist unter anderem zu lesen:
Einen besonderen Erwerbszweig für ärmere Einwohner bildet der Gips, der aus 3 Brüchen gewonnen wird und in der ganzen Umgegend zum Verkauf kommt. So waren Gipssteinbrüche beim oberen Tor, bei der Hohenhecke und in den Seeäckern. 14 mahlende Gipsmühlen zählte man damals in Eltingen.“
Gips, oder “Ips“, wie man ihn damals nannte, war nicht nur als Baumaterial gefragt. Er wurde auch zu pulverisiertem Düngergips gemahlen, der seit dem 18. Jahrhundert zunehmend zur Bodenverbesserung eingesetzt wurde.
In Eltingen ist der Gipsabbau seit der Mitte des 18. Jahrhunderts belegt. Auf den 9. Januar 1754 datiert jedenfalls eine herzogliche Verfügung betreffs der Reservierung des in Eltingen gefundenen Gipses für das herrschaftliche Bauwesen. Bald danach muss auch der private Abbau eingesetzt haben. Die Gipsbrüche lagen nördlich und östlich des alten Ortes.
Der Scheffel Gips (ca. 177 l) kostete im Jahre 1780 5 Kreuzer, 1 Maß Wein (= 1,8 l) dagegen 20 Kreuzer. 1808 war der Preis des Gipsmehles also so gering, dass es praktisch unmöglich war, davon zu leben. An die Gemeinde äußerten die Gipsmüller und Gipsbrecher deshalb den Wunsch, ein Magazin zur Lagerung des Gipses bauen zu dürfen. Somit hätten sie Gelegenheit, den Gips jederzeit verkaufen zu können. In einem Vertrag vom 14. Oktober 1808 wurde zwischen Gipsmüllern und -brechern vereinbart, solch ein Magazin zu bauen. Die Anzahl der Gipsmüller wurde auf 23 limitiert. Um das Quantum des Magazins konstant zu halten, sollte kein neuer Gipssteinbruch auf der Markung errichtet werden. Dieser Vertrag gelangte jedoch nie zur Ausführung. Im Gegenteil, der Gipsabbau dehnte sich immer weiter aus.
Die Anzahl der zwischen 1770 und 1930 als Gipsmüller in Eltingen erwähnten Personen ist enorm hoch. Die meisten betrieben diese Arbeit jedoch nur als Nebenerwerb. 1808 wurden 23 Gipsmüller gezählt, 1882, als bereits die industrielle Gipsverarbeitung eingesetzt hatte, – wurden immer noch 20 Gips- und Sandhändler aufgeführt.
Ehem. Gipswerk Eppinger an der Römerstraße. Das Werk stellte 1977 seinen Betrieb ein. Die Steinbrüche wurden in die Seenanlagen des Leonberger Stadtparks integriert. (Foto: Stadtarchiv Leonberg/Sammlung Morlok)
Mit dem Beginn der industriellen Gipsverarbeitung bekamen die kleinen Eltinger Gipsmühlen Konkurrenz. Der weitsichtige, ökonomisch denkende Pfarrer Ostertag hatte seinen Gemeindemitgliedern bereits mehrfach nahe gelegt, beim Gipsabbau neue Wege zu gehen. Er riet ihnen, die ärmlichen Kleinbetriebe durch eine als Aktiengesellschaft betriebene Fabrik zu ersetzen. In seinem Pfarrbericht ging er 1871 mit seiner Gemeinde hart ins Gericht und klagte: „Jetzt ist von Auswärtigen eine solche Fabrik an der Eisenbahn errichtet, die Eingeborenen sind überflügelt“.
Tatsächlich befand sich seit 1871 eine Gipsfabrik beim Leonberger Bahnhof. (Besitzer: Stuttgarter Gypsgeschäft Geißler). 1878 musste sie allerdings ihren Betrieb wieder einstellen. Nach einem kurzen Intermezzo als Cichorien-Fabrik (Erste Württ. Aktien-Cichorien-Fabrik Friolzheim) wurde sie 1882 von den Herren Godeffroy und Gohl, die ihr Geschäft von Möhringen nach Leonberg verlegt hatten, in eine Eisenmöbelfabrik umgewandelt. Diese Eisenmöbelfabrik wurde 1894 von Imanuel Eppinger aufgekauft, der sie 1896 wieder in ein Gipswerk umfunktionierte.
Nach erfolgreichen Probebohrungen an der Römerstraße, erwarb Eppinger dort Gelände und errichte hier ein zweites Gipswerk mit drei Brennöfen. Die Gemeinde Eltingen unterstützte Eppinger finanziell bei dem Bau einer Wasserleitung mit der Auflage, die Fabrik dürfe niemals nach Leonberg verlegt werden. 1908 wurde vom Gipswerk eine Kleinbahn zum Bahnhof – das legendäre „Gleisle“ – gebaut. Es verlief auf der Trasse der alten Römerstraße genau auf der Markungsgrenze Eltingen/Leonberg. Während in Richtung Bahnhof die Loren aufgrund des Gefälles von allein rollten, mussten sie in entgegen gesetzter Richtung von Pferden, später von Maschinen gezogen werden.
Das Gipswerk am Leonberger Bahnhof wurde 1897 an den Fabrikanten Christian Kling verkauft. Von diesem ging es 1899 in den Besitz von Julius Perlen über. 1910 kaufte Eppinger das Perlen’sche Werk wieder auf.
Inzwischen hatte auch Emil Schüle mehrere reiche Gipsvorkommen versprechende Grundstücke gekauft. 1910 fusionierte er mit Imanuel Eppinger. Die Gipsfabrik Eppinger & Schüle wurde als leistungsfähigstes Werk für ofengebrannten Gips im Raum Süddeutschland bezeichnet. 1911 wurden 2.482 Waggons Baugips verkauft. Vor dem ersten Weltkrieg waren zeitweise 80 bis 100 Arbeiter beschäftigt, darunter sogar Facharbeiter aus Italien.
1977 stellt das Werk Eppinger & Schüle seinen Betrieb ein. Nach und nach konnte die Stadt Leonberg – Eltingen war bereits 1938 eingemeindet worden – das Gelände des ehemaligen Gipswerks erwerben. Hier - genau zwischen Leonberg und Eltingen – entstand in den 1970er und 1980er Jahren Leonbergs Neue Stadtmitte. Die alten Industrieanlagen wurden abgebrochen, die Steinbrüche teilweise als Seen in die Anlagen des Stadtparks integriert.
Luftbild von Eltingen aus dem Jahre 1918. Rechts unten das Gelände des Gipswerks Eppinger & Schüle. (Foto: HStAS M 700)
In einem Vertrag vom 14. Oktober 1808 wurde zwischen Gipsmüllern und -brechern vereinbart, ein Magazin zur Lagerung von Gips zu bauen. Eine gekürzte Abschrift dieses Vertrages finden Sie hier.
Quellenanlage:
Auszug aus dem Vertrag der Gipssteinmüller und Gipsbrecher vom 14. Oktober 1808
Literaturangaben:
Der Gips- und Sandabbau spielte im Bereich des heutigen Landkreises Böblingen in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch an anderen Orten eine wichtige Rolle. In zeitreise-bb finden Sie zu diesem Thema weitere Informationen unter