Belebtes Herzstück und verlassenes Geviert
Der Böblinger Marktplatz
Autor: Michael Stürm
Als Aufstellplatz für die Marktstände bei der Kundschaft gescheitert, von den Anwohnern gefürchtet als Festles-Areal, missbraucht als Park- und Überfahrtsgebiet für die Autos. Der Marktplatz, eine Ecke der Stadt, die irgendwo zwischen Verödung und Zwangsbelebung vor sich hinvegetiert und höchstens mal kurz aufblüht, wenn Joschka Fischer dort grüne Politik beschwört oder Europas Jugend anlässlich der Partnerstadt-Olympiade ein Wochenende lang für frischen Wind sorgt. Nein, einen leichten Stand hatte dieses zentrale Stück Böblingen noch nie. Zumindest in der Nachkriegszeit. Das war einmal alles ganz anders. Unsere historische Aufnahme aus dem Jahr 1913 präsentiert einen Marktplatz, der ein ganz anderes Gesicht besitzt. Der Fotograf postierte sich im ersten Stockwerk eines Gebäudes, dessen Platz heute das Rathaus eingenommen hat. Ziel seines Objektives: der Blick Richtung Stadtkirche.
Die Perspektive offenbart, dass das Herzstück Böblingens seither einen tiefgreifenden Wandel hinter sich hat. Dort, wo heute immer mal wieder die Bierbänke aufgereiht werden und sonst Böblingen einen großen Bogen drum herum macht, standen früher einmal Wohnhäuser und verliehen dem ganzen Areal ein kleinstädtisches Antlitz. Die Obrigkeit regierte auch damals bereits an dieser Stelle, erkennbar an dem Fahnenmasten, der aus dem Rathaus auf der rechten Seite ragt.
Nur der Christophorus-Brunnen schräg gegenüber sowie eine Bauminsel vor der Kirche, hinter der das Schloss gerade noch hervorlugt, lassen einen Platzcharakter ahnen. Ansonsten bot der größte Teil des heutigen Marktplatzes den Böblingern ein Dach über dem Kopf.
Große Fläche ohne Leben: der Böblinger Marktplatz im Jahre 2004. (Bild: Susanne Schmidt)
Ein schwäbisches Kleinstadt-Idyll mit Ladengeschäften, Staffeln, Kneipen, Wirts- und Wohnhäusern, das 30 Jahre später in einer einzigen Nacht von der brutalen Macht des Krieges wegradiert wurde. Alliierte Luftstreitmächte trugen den Bombenterror am 7. Oktober 1943 erstmals in eine süddeutsche Kleinstadt. Die verheerende Bilanz: 44 Tote, 243 Verletzte, 1735 Menschen ohne Dach über dem Kopf, ein Stadtkern, der fast nicht mehr existierte.
War’s bewusste Verdrängung oder Ausfluss eines neuen Verständnisses von Städteplanung? Wie auch immer: Die Aufbaugeneration wollte nach dem Kriege diesen Stadtkern nicht mehr so zum Leben erwecken, wie er vor dem Krieg existierte. Lediglich die Kirche, sakrales Symbol von Wiederauferstehung und Unvergänglichkeit, wurde – die Bilder beweisen es – exakt wiederaufgebaut.
Ansonsten sollte ein großer Platz die Mitte der neu erstandenen Kernstadt markieren. Ein Platz, der in den boomenden Nachkriegsjahren schnell unter die Räder der wachsenden Mobilität geriet. Autos und Parkplätze nahmen Besitz von diesem Areal und sorgten für zweifelhafte Belebung eines Ortes, dessen Bedeutungsverlust mit der Entwicklung der Unterstadt und dem Bau jedes neuen Stadtteils zunahm. Anfang der 80er Jahre wurde es dann vollends ruhig auf der historischen Mitte: Eine Tiefgarage unterhöhlt seither das Geviert, dessen Bezwingung per Fuß den modernen Menschen heutzutage viel Puste kostet.
Stille und verlassenes Pflaster am Fuße des Schlossbergs. Spätestens hier wird der Blick ins Damals zu einem Blick in die Zukunft. Warum sich nicht wieder an der Städteplanung der Ahnen orientieren und den Marktplatz bebauen? Eine Wiederbelebung wäre dem Zipfel Alt-Böblingen gewiss und die Stadt hätte einige Quadratmeter dringend benötigten Wohnraum geschaffen. Nachteil: Der Blick aus dem Amtszimmer des Stadtchefs wäre für immer verbaut.
Wohnquartier mit Ladengeschäften, Staffeln, Kneipen, Wirts- und Wohnhäusern: Der Marktplatz im Jahre 1913. (Foto: Stadtarchiv Böblingen)
Erstveröffentlichung: Kreiszeitung/Böblinger Bote vom 15. Januar 2004
Mit freundlicher Genehmigung der Kreiszeitung / Böblinger Bote