Die Radikalpietistin Anna Riethmüller und ihr separatistisches Umfeld im 18. Jahrhundert
„Scandalense Vergehung“ in der Nufringer Pfarrkirche
Autor: Dr. Helga Hager
So sollen Euer Herzoglichen Durchlaucht wir in Unterthänigkeit melden, daß, was die Anna Riethmüllerin von Nuffringen betrifft, solche von uns den 27ten Jan(uar) vorbeschieden, und nachdem wir uns lange vergeblich bemühet, sie zur Erkandtniß und Bereuung ihres öffentlichen in der Kirche begangenen Ohnfugs zu bringen, d(en) 28ten ejuso [desselbigen Monats] in das Ludwigsburger Zuchthauß auf vier Wochen transportiret worden, von wannen sie bereits vor 14 Tagen wieder zurückgekommen.“1
Diese “unterthänige“ Meldung richtet der leitende Beamte des Oberamts Herrenberg zusammen mit dem Dekan am 16. März 1768 an den “Durchlauchtigsten Herzog“ persönlich. Sie ist Teil einer umfangreichen Berichterstattung, in der beide ihrem obersten Dienstherrn über die “in Gärttringen, Nuffringen und hier [Herrenberg] sich enthaltenden und durch mancherley Vergehungen allerhand Motus [Aufruhr] und Aufsehen verursachenden Separatisten“ Rechenschaft ablegen. Außer Anna Riethmüller werden noch drei Männer sowie eine Frau und ein Ehepaar in Gärtringen benannt. (…)
Gemäß des Berichts des Nufringer Pfarrers vom 5. April 1768 hat Anna Riethmüller (im Sommer 1767) versucht, während des sonntäglichen Gottesdienstes die Kirchgänger am Empfang des Abendmahls oder aber den Geistlichen an dessen Austeilung zu hindern. … Wenngleich die kirchlichen Feiern zu dieser Zeit weniger diszipliniert verliefen als heute, …, so dürfte einem solch unmittelbaren Eingriff in den Kultus eine revolutionäre Qualität beigemessen worden sein. Nicht zufällig spricht der Herrenberger Oberamtmann von „scandalense(r) Vergehung“.
Anna Riethmüller demonstriert mit dieser “Vergehung“ ein Glaubenverständnis, das nicht auf die Vermittlung von Pfarrer und Sakramenten angewiesen ist. Sie sieht sich als Gläubige in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott und beruft sich damit auf die Freiheit des selbstverantwortlichen Denkens und Handelns als höchstes Menschenrecht. Zugleich betrachtet sie ihren Glauben nicht als Privatangelegenheit: Ihr genügt es nicht, …, sich von der Kirche und ihren Ritualen lediglich äußerlich zu separieren“ – sie strebt auch eine aktive ‚Bekehrung‘ der Kirchengemeinde an. …
Aus zeitgenössischen Berichten über andere Separatisten und Separatistinnen lässt sich schließen, dass sie diese Kompetenz wohl aus einer ‚unmittelbaren‘, spiritualistischen Begegnung mit Gott oder anderen Heilsträgern, einer sog. Erweckung, gewonnen hat; und diese wiederum dürfte sie zu einer ganzheitlichen Veränderung des Lebens angeregt haben, was im damaligen Sprachgebrauch und Verständnis mit Wiedergeburt“ betitelt wurde. …
Anna Riethmüller hat wohl, …, über eine Heilsgewissheit verfügt, die sich auch über nonverbale Erfahrungen vermittelte, die den ganzen Menschen ergriff. … Das ist der Raum, in dem ekstatische Erlebnisse stattfanden; sie wurden insbesondere Frauen zugeschrieben. … Diese Verbindung von Religiosität und Leiberfahrung [lässt] erahnen, in welchem Gegensatz sich die radikalen Frommen und separatistisch Gesinnten zu der Staatskirche befanden, die ja in ihrer Vermittlung allein an das Wort gebunden war. …
Die empfangende Seele, Emblematischer Holzschnitt, 1628. (Aus: Widerständig – streitbar – revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen, Böblingen 1999, S. 64)
Frauen waren in Württemberg in der pietistischen Bewegung nicht nur zahlenmäßig stark vertreten. Wie die Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger in ihrem weitgespannten Überblick zu Frauen im Pietismus“2 aufzeigt, hatten sie – auch – aktive Rollen inne. So beispielsweise die schreibenden, ’schriftstellerisch‘ tätigen Frauen im 18. und frühen 19. Jahrhundert.
Im separatistischen Umfeld traten insbesondere “Prophetinnen“ oder “Visionärinnen“ durch ihre medialen ‚Fähigkeiten‘ hervor. Vor allem aber scheinen hier Frauen vielerorts an öffentlichen Widerständigkeiten gegen Obrigkeit und Pfarrer beteiligt gewesen zu sein, womit sie nicht nur Frauenräume, sondern auch die dörfliche Wirklichkeit insgesamt veränderten. …
Anna Riethmüllers Protest in der Nufringer Kirche fällt in eine Zeit, in der in Württemberg die separatistische Bewegung einen erneuten Aufschwung nahm, und in der sich zunehmend auch die unteren Volksschichten von sich aus für die pietistischen Lehren interessierten. Auch im innerkirchlichen Zweig entstanden durch den wachsenden Zulauf zu den Privatversammlungen, die immer mehr von Laien aus dem einfachen Volk geleitet wurden, Spannungen zur Staatskirche. Das soziale und wirtschaftliche Klima in Württemberg war in dieser Phase durch ein starkes Bevölkerungswachstum und eine damit einhergehende grassierende Unterbeschäftigung gekennzeichnet. Je nach topographischer Lage und nach Boden- und Markungsverhältnissen der Dörfer lebte ein mehr oder minder großer Teil der Familien in Armut. Nufringen verfügte bei 683 Einwohnern über 2795 Morgen3 Land; den Haupterwerb bildeten Ackerbau und Viehzucht; daneben betrieben viele ein Handwerk.4
Anna Riethmüller war mit Blick auf die Oberämter Herrenberg, Böblingen und Leonberg nicht die einzige Frau, die in der Öffentlichkeit aktiv und selbstverantwortlich für ihren Glauben eintrat und mit der Obrigkeit in Konflikt geriet. So wird im selben Schreiben, in dem der Herrenberger Oberamtmann seinem Landesherrn über Anna Riethmüller berichtet, auch die “Zinnserin von Gärttringen“ erwähnt; … In Haslach zeigte ein halbes Jahrhundert zuvor, 1709, selbst die Drohung einer „Landsverweisung“ bei drei “Weibspersonen“ keine nachhaltige Wirkung: Anna Maria Küster nebst Tochter sowie Agnes Schneyder versicherten noch vier Jahre später, 1713, dass sie bei “ihrem Wesen“ bleiben wollten. Agnes Schneyder war ledig und stammte aus der Haslacher Oberschicht.
Zur selben Zeit lebte in Herrenberg eine bedeutende Vertreterin der separatistischen Bewegung aus dem ritterschaftlichen Adel des Landes: Amalia Hedwig von Leiningen (1684 -1758), die mit dem Obervogt von Herrenberg verheiratet war, erlangte in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts als Verfasserin theologischer Schriften überregionale Bedeutung. Sie führte auch eine Separatistengemeinde an. Sie war jedoch als Angehörige des reichsunmittelbaren Standes vor dem württembergischen Zugriff, das heißt vor der Strafverfolgung, geschützt. Die Nufringer Bauerntochter war folglich weitaus wagemutiger.(…)
Anna Riethmüller ist am 8. 8. 1737 in Nufringen als siebtes von insgesamt 14 Kindern geboren; fünf ihrer Geschwister starben bereits im ersten Lebensjahr. … Ihre Eltern besaßen einschließlich Lehen wohl über 20 Morgen Land, womit ihre Familie zur Mittelschicht gezählt haben dürfte. Anna starb bereits mit 41 Jahren. Ihr drei Jahre älterer Bruder Jacob, der ebenfalls dem Separatismus anhing, wurde nur 36 Jahre alt; als Todesursache ist “Husten“ angegeben. Von den neun überlebenden Kindern aus beiden Ehen (des Vaters) … haben nur vier geheiratet. …
Anna hat in einem kleinen, zweistöckigen Haus in unmittelbarer Nachbarschaft des elterlichen Anwesens gelebt, das von einigen Geschwistern zusammen erbaut worden war; … Zum Zeitpunkt ihres Todes war es als ihr Eigentum ausgewiesen und mit 190 Gulden5 veranschlagt. … Die Ausstattung des Hauses muss jedoch sehr karg gewesen sein, da die “Fahrniß“, die beweglichen Güter, pauschal nur mit 15 Gulden angesetzt ist. … Das Gesamtvermögen von 420 Gulden wurde durch einen beträchtlichen Betrag von Schulden geschmälert. 40 Gulden standen bei der “Gnädige(n) Frau von Bernerdin zu Sindlingen“ offen, 90 bei dem “Gnädige(n) Fräulein, welches sich würklich bei der Frau von Bernerdin zu Sindlingen aufhält“ sowie 15 bei der “Cammer Jungfer Sabina N.“ der Frau von Bernerdin.
Diese Verpflichtungen lassen vermuten, dass sie zumindest zeitweise ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten konnte. Aufgrund ihres Landbesitzes und jenes der Eltern gehörte sie jedoch keineswegs zu den Armen des Dorfes. …
Bei ihren adligen Kreditgebern – der Besitzerin und den Bewohnerinnen des südwestlich von Herrenberg gelegenen, reichsunmittelbaren Rittergutes Sindlingen – muss es sich um Glaubensgenossinnen gehandelt haben; anders ist eine solche Verbindung über die Standesgrenzen hinweg nicht erklärbar. Erblichen Privilegien wurde ja von separatistisch Gesinnten wenig Bedeutung beigemessen. Vielleicht stand Anna Riethmüller bei der Familie von Bernerdin auch zeitweilig im Dienst. Auf Schloss Sindlingen jedenfalls dürfte für sie ein Diskussionsforum, die Möglichkeit des geistigen Austauschs bestanden haben. Diese außerdörfliche Orientierung kann überdies auch eine Weg gewesen sein, weitere Konfrontationen mit der Obrigkeit zu vermeiden, da die Reichsunmittelbarkeit des Rittergutes einen gewissen politischen Schutzraum garantierte. In Sindlingen hielt sich auch später Michael Hahn auf, allerdings war das Schlossgut zu diesem Zeitpunkt bereits in andere Hände übergegangen.6 …
Doch auch in Nufringen selbst stand sie in ihrer separatistischen Überzeugung nicht allein. … Sie verfügte, wie der Pfarrer im Jahre 1768 dokumentiert, über eine (kleine) männliche Anhängerschaft, mit denen sie ab und zu über ihre Thesen diskutierte.7 … Sie als unverheiratete Frau bildete mit drei verheirateten Dorfgenossen eine soziale Koalition, die für die ständisch-traditionale Gesellschaft insgesamt äußerst ungewöhnlich ist. …
Anna Riethmüller habe sich, so berichtet der Pfarrer kurz nach ihrer Rückkehr aus Ludwigsburg, trotz Zuchthausstrafe „nicht gebeßert“. Er weiß allerdings über “keine neue(n) Umstände“, das heißt keine neuen öffentlichen Provokationen zu berichten. …. Noch 1773 wird sie als Separatistin geführt, “welche sich still verhält“.8 Kurz vor ihrem Tod allerdings, 1779, erwähnt sie der Pfarrer nicht mehr. …
Dr. Helga Hager: Pietismus und Separatismus in Württemberg
Der Pietismus war in Württemberg gegen Ende de 17. Jahrhunderts in der Folge verschiedener politische und gesellschaftlicher Entwicklungen als innerkirchliche Reformbewegung entstanden. Sie verlangte eine Umsetzung der Lehren im praktischen Leben, eine tätige Frömmigkeit und zog eine asketische Lebensausrichtung nach sich. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Kirchenferne der Bevölkerung bedingt unter anderem durch die als zu eng“ beurteilte Bindung der Kirche an den absolutistischen, prachtentfaltenden Staat – traten schon früh antikirchliche Strömungen auf.
Dieser radikale Flügel, die sogenannten Separatisten, die zahlenmäßig gegenüber dem innerkirchlichen Flügel immer sehr gering blieben, vertraten die Ansicht, daß zum wirklichen Christsein eine scharfe Trennung von der Kirche und zum Teil auch vom Staat notwendig“ sei; so sprachen sie sich auch gegen den Kriegsdienst aus, verweigerten den Eid und propagierten das Du gegenüber der Obrigkeit.9Die radikalsten unter diesen Separatisten wandten sich ganz von der Amtskirche ab, um in einer eigenen Gemeinschaft der ‚Auserwählten‘ ihr Heil zu suchen und sahen ihr Gemeindemodell in der apostolischen Gemeinde der ersten Christen. Sie verwarfen die öffentlichen Gottesdienste, verweigerten die Gnadenmittel der Kirche wie Taufe, Beichte und Abendmahl, wie sie überhaupt alle kirchlichen Ordnungen als Menschenwerk ansahen und deshalb die Amtskirche und ihre Vertreter als das antichristliche Babel schmähten.“ 10versammelten sich im kleinen Kreise (Collegia Pietatis); außerhalb Württembergs wurden diese Versammlungen gelegentlich zu Lebensgemeinschaften weiterentwickelt.
Der Verlauf der separatistischen Bewegung ist eng an gesellschaftliche Krisenzeiten gekoppelt; besondere Ausschläge bewirkten die Franzoseneinfälle und der spanische Erbfolgekrieg in den Jahren um 1700 sowie die napoleonische Neuordnung um 1800; der Höhepunkt war jedoch bereits 1720 überschritten.
Auch die theologischen Ausrichtungen korrespondierte mit den Zeitverhältnissen. So kam in der radikalpietistischen Religiosität dem Chiliasmus eine große Beutung zu: Man glaubte, dass die Wiederkunft Christi nahe oder sogar unmittelbar bevorstehe. Diese endzeitliche Wirklichkeitsdeutung steht mit den Existenzbedrohungen in Zusammenhang, denen die Menschen im 17. und 18. Jahrhundert ausgesetzt waren; für das 17. Jahrhundert hat der Historiker Hans nachgewiesen, dass radikale Pietisten vorwiegend aus solchen gesellschaftlichen Gruppen kamen, die von gesamtwirtschaftlichen Veränderungen besonders betroffen und damit auch in ihrem sozialen Status gefährdet waren.
Zentren der separatistischen Bewegung in Württemberg lagen in der Frühzeit in Stuttgart und Calw, in der späteren Phase in den Dekanaten Dürrmenz und Knittlingen sowie im Remstal, auf der Schwäbischen Alb und in der Gegend um Balingen.
Quelle: Dr. Helga Hager, Fromme Rebellinnen – Frauen und Separatismus im 18. Jahrhundert. In: Widerständig streitbar revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen. Herausgegeben von der Frauenbeauftragten des Landkreises Böblingen, Böblingen 1999, S. 62-63.
Erstveröffentlichung: Dr. Helga Hager, Fromme Rebellinnen – Frauen und Separatismus im 18. Jahrhundert.In: Widerständig streitbar revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen. Herausgegeben von der Frauenbeauftragten des Landkreises Böblingen, Böblingen 1999, S. 60-73
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Hintergrund und Kontext:
Pietismus im Böblinger Raum
Pietismus im Gäu
Radikalpietist Eipperle aus Gärtringen
Literaturhinweis:
Nufringen – Eine Gäugemeinde im Wandel der Zeit. WEGRAhistorik-Verlag Eberhard Hartenstein + Partner, Stuttgart 1998, S. 174-176
Referenz
↑1 | LKA (Landeskirchliches Archiv Stuttgart), A 26, Bü 472 |
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↑2 | Christel Köhle-Hezinger: Frauen im Pietismus, in: Blätter für württ. Kirchengeschichte 94/1994, S. 107-121 |
↑3 | 1 württ. Morgen = 31,52 Ar |
↑4 | Daten aus Traugott Schmolz, Nufringen, Herrenberg 1963 |
↑5 | 1 Gulden (fl) = 60 Kreuzer (kr). Nach der Währungsumstellung entsprach 1 Gulden ca. 1,71 Mark. Legt man für eine grobe Währungsumrechnung aktuelle Lebensmittelpreise zugrunde, dürfte ein Kreuzer etwa den Gegenwert von 0,80 gehabt haben. Die Guldenwährung im süddeutschen Raum bestand von ca. 1550 - 1875. |
↑6 | Es wurde 1785 vollends an Franziska von Hohenheim verkauft. |
↑7 | Bei den erwähnten Männern handelte es sich um ihren Bruder Jacob Riethmüller, den Bauern Blasius Marquardt, den aus E(h)ningen zugezogenen Hufschmied Jacob Bengel und den Tuchmacher Jung Stephan Reichardt. |
↑8 | HSTA (Hauptstaatsarchiv) A 281 Bü 620; Kirchenvisitationsberichte Nufringen von 1773 und 1779 |
↑9 | Joachim Trautwein: Freiheitsrechte und Gemeinschaftsordnungen um 1800. Pietismus und Separatismus in Württemberg, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg): Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, Band 2, Stuttgart 1987, S. 323-342, s. S. 324f. |
↑10 | Eberhard Gutekunst: Triumph Victoria, Jesus Gloria! Radikale Pietistinnen im 18. Jahrhundert, in: Herd und Himmel, Frauen im evangelischen Württemberg. Katalog zur Ausstellung des Landeskirchlichen Museums Ludwigsburg, Stuttgart 1998, S. 155. |