Das Augustiner Chorherrenstift in Sindelfingen
Autor: Oliver Auge
Um 1050 gründete Graf Adalbert II. (von Calw) an seinem Hauptsitz Sindelfingen ein benediktinisches Doppelkloster. Doch schon kurze Zeit später verlegte er die Mönche und Nonnen nach Hirsau und rief stattdessen ein Chorherrenstift ins Leben, für das er auf Teilen seines Herrenhofs die Kirche St. Martin zu errichten begann. Wegen des Hauptpatroziniums des in karolingischer Zeit beliebten Heiligen geht man indes von einer weit älteren kirchlichen Tradition am Ort aus. Tatsächlich ist ein christlicher Friedhof aus dem 8. Jh. ergraben worden. Auf eine anfängliche vita communis scheinen belegte Einrichtungen wie ein Kreuzgang oder ein Refektorium hinzudeuten, doch löste sich dieses Gemeinschaftsleben wohl spätestens im 13. Jh. auf.
Die Zahl der Kanonikate ist bis zur 2. Hälfte des 15. Jh. nicht überliefert. Damals waren es zehn. Hinzu kamen noch zehn Kaplaneien und die Propstpfründe. Statuten aus dem Jahr 1297 regelten die innere Ordnung des Stifts. Sie wurden 1420 erneuert und erweitert. Zunächst lag die Stiftsvogtei bei den Grafen von Calw, von denen sie um 1131 an Welf VI. überging. Ihn könnten die Staufer beerbt haben, die vielleicht die Vogtei im staufisch-welfischen Thronstreit an ihre Anhänger, die Pfalzgrafen von Tübingen, weitergaben. Die Tübinger standen nachweislich seit 1216/43 in enger Beziehung zum Stift. Mehrfach beraubten sie es freilich, vor 1260 wurden zudem die Chorherrenkurien von ihnen niedergebrannt, 1281 der Propst gefangen gesetzt. Um 1310/20 ging die Vogtei an die Herren von Rechberg und von diesen 1351/69 an die Württemberger über, bei denen sie verbleiben sollte.
Württemberg machte im 15. Jh. seinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Kapitels geltend: War das Stift bis zum Ausgang des 14. Jh. niederadelig dominiert und fanden sich sogar auch Hochadelige unter den Chorherren, so setzte sich im Verlauf des 15. Jh. das bürgerliche Element durch. In der Hauptsache stammten die Kleriker aus dem stiftsnahen Umfeld, dem Bereich Schönbuch und Gäu. In Sindelfingen selbst besaß das Stift vor allem den nördlich an die 1263 gegründete Stadt anschließenden Stiftsbezirk. Die Kirchen zu Weilimdorf (1243), Dilgshausen mit Leonberg (1277), Darmsheim (1342/1426), Dagersheim (1345), Tailfingen (1352), Feuerbach (1396/1421), Neckartailfingen (vor 1421/28), Grötzingen (vor 1435/55) sowie Vaihingen a. d. Fildern (1439) waren dem Stift inkorporiert. In über 30 Orten im Neckar-Schönbuch-Gebiet verfügte es zudem über Güter oder Einkünfte.
Das Stift war so im 15. Jh. eines der wohlhabendsten im württembergischen Raum, und ab 1442 fiel ihm im Uracher Landesteil vollends eine kirchliche Führungsposition zu. Das mochte Graf Eberhard V. von Württemberg dazu veranlassen, mit der Genehmigung seiner Mutter Mechthild, zu deren Widdum Sindelfingen gehörte, die Verlegung der Propstei und von acht Kanonikaten samt Pfründen sowie von zwei Dritteln der Distributionen an die Tübinger Georgskirche zu betreiben, um damit zur Realisierung seiner Hochschulpläne ein Universitätsstift zu gründen. Aus dem in Sindelfingen verbleibenden Vermögensrest sollte dagegen ein reguliertes Chorherrenstift geschaffen werden. Die Kurie willigte darin 1476 ein, 1477 wurde die Gütertrennung vollzogen. Seither bestand in Sindelfingen eine – anfänglich sieben Mitglieder zählende – klosterähnliche Niederlassung von Augustinerchorherren der strengen Windesheimer Kongregation.
Die Sindelfinger Stiftskirche (Martinskirche) um die Mitte des 19. Jahrhunderts. (Aus: Beschreibung des Oberamts Böblingen, Stuttgart/Tübingen 1850)
Die Kanoniker Heinrich von Capella sowie Konrad von Wurmlingen sind als Verfasser einer Stiftschronik bekannt. Unter den Chorherren des 15. Jh. finden sich etliche Gelehrte wie die Pariser Professoren Johannes von Bottwar oder Johannes Spenlin oder die Heidelberger Hochschullehrer Georg Schienlin, Konrad Menckler oder Johann Heckbach. Insbesondere war hier bis zur Stiftsverlegung eine beachtliche Zahl studierter Kleriker-Juristen, an ihrer Spitze Propst Heinrich Tegen, bepfründet, die dem Stift den Charakter eines Personalreservoirs für landesherrliche Dienste oder gar eines frühen „Zentrums landesherrlichen Beamtentums“ gaben.
Die Stiftskirche diente als Sindelfingens Pfarrkirche. Zunächst versah wohl der Propst selbst die Pfarrei, doch wurde sie vermutlich bald einem Chorherren oder Vikar übertragen. Die Statuten von 1420 sprechen von Prozessionen durch den Kreuzgang des Stifts zum Chor und durch den Friedhof. Die Augustiner-Chorherren wurden 1486 in die Bruderschaft der Augustiner-Chorfrauen von Inzigkofen und verbrüderten sich 1490 mit den Augustinerinnen zu St. Ursula in Tübingen. Wendelin Steinbach vertrat sie 1492 auf der Meersburger Synode. Auf eine religiöse Bedeutung des Stifts in früher Zeit könnte die Teilnahme Propst Heinrich von Hailfingens an Konzil und Reichstag zu Würzburg (1287) hinweisen.
Um 1500 stand es anscheinend um die Ordnung der Augustinerchorherren nicht zum besten. Gleichwohl verfügten sie über einen ansehnlichen Wohlstand. Ihre Niederlassung wird um 1525 als „rich Kloster“ bezeichnet, erlitt im Bauernkrieg aber mancherlei Schaden. Die Chorherren verweigerten sich mit einer Ausnahme dem neuen Glauben und erhielten außer in einem Fall gegen Verzicht auf ihre Rechte ein Leibgeding ausgesetzt. Die offizielle Aufhebung des Stifts erfolgte Anfang 1536. Die Gebäude des „Klosters“ wurden seitdem zu Lager- und Verwaltungszwecken genutzt und teilweise abgerissen.
Wohl auf Teilen des in Sindelfingen befindlichen Herrenhofs wurde in der 2. Hälfte des 11. Jh. mit der Errichtung der Martinskirche begonnen. Vielleicht bezieht sich die zu 1083 überlieferte Weihe auf eine Grundsteinlegung oder die Einbringung eines Altarfundaments. In einem zweiten Bauabschnitt wurde die Krypta vollendet und 1100 geweiht. Kurz nach 1130 stellte man dann die Kirche fertig: Sie erhielt einen Hochchor, Pfeilerarkaden im Mittelschiff mit einer darauf ruhenden hölzernen Flachdecke, die als eine der ältesten in Baden-Württemberg erhalten und auf das Fällungsjahr 1131 zu datieren ist, und – vielleicht erst nach dem Abschluss des Baus – einen campanileartigen Turm. Turm- und Pfeilerform wie auch die Gliederung der drei Apsiden, in die das Kirchenschiff im Osten ausläuft, werden durch die Kontakte Welfs VI. nach Italien erklärt. Aus seinen Tagen stammen wohl auch die Türflügel am Westportal mit ihren reichen Beschlägen, die auf eine Gerichtsstätte an dieser Stelle hinweisen könnten. Renovierungen des 19. und 20. Jh. entfernten alle nachromanischen Bauteile und Zutaten, so dass sich dem heutigen Besucher einer der schönsten romanischen Kirchenräume im weiten Umkreis bietet.
Der Sindelfinger Stiftsbezirk um 1475. (Aus: E. Schempp: Die bauliche Entwicklung Sindelfingens vom Mittelalter bis Anfang 18. Jh., Sindelfingen 1998, S. 32.)
Erstveröffentlichung: Württembergisches Klosterbuch. Klöster, Stifte und Ordensgemeinschaften von den Anfängen bis in die Gegenwart. Hg. von Wolfgang Zimmermann und Nicole Priesching im Auftrag des Geschichtsvereins der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Jan Thorbecke Verlag GmbH, Ostfildern 2003, S. 457-459
Augustiner-Chorherrenstift Sindelfingen – Basisdaten
Lage: Sindelfingen, Landkreis Böblingen
Bistum: Konstanz, ab 1821 Rottenburg-Stuttgart
Ordensregel: Benediktinerinnen (um 1050 – um 1059)
Chorherren, weltliche (um 1059 – 1477), Augustiner-Chorherren (1477 – 1536)
Gründung: 1477 Aufhebung: 1536
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Jan Thorbecke Verlags GmbH Ostfildern
Der Autor, Dr. Oliver Auge, studierte an der Universität Tübingen und promovierte am Tübinger Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften. Seit März 2009 ist er Professor am Lehrstuhl Regionalgeschichte mit dem Schwerpunkt Schleswig-Holstein im Mittelalter und Früher Neuzeit am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Internet-Link: Klöster in Baden-Württemberg
Literatur:
E. Gradmann: Die Martinskirche in Sindelfingen. In: 23 (1919) 11-130.
H. Paulsen: Die Schildtür an der Martinskirche zu Sindelfingen. In: Sindelfinger Jahrbuch 13 (1971) 211-253.
E. Schempp: Der Sindelfinger Stiftsbezirk. In: Sindelfinger Jahrbuch 16 (1974) 249-292.
H. Weisert: Geschichte der Stadt Sindelfingen von den Anfängen bis heute. Sindelfingen 1975.
B. Scholkmann: Archäologische Untersuchungen in der ehemaligen Stiftskirche St. Martin in Sindelfingen. In: Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 4 (1977) 7-66.
E. Nau: Der Münzschatz von Sindelfingen. In: Sindelfinger Jahrbuch 19 (1977) 282-291.
H. Schäfer: Zur Baugeschichte der ehemaligen Stiftskirche St. Martin in Sindelfingen. In: Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 4 (1977) 77-128.
O. Auge: Stift und Herrschaft. Eine Studie über die Instrumentalisierung von Weltklerus und Kirchengut (…) (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Sindelfingen 4). Sindelfingen 1996.