Bei den Wahlen 1924/25 tanzt Sindelfingen aus der Reihe
Viermal wurden die Sindelfinger in den Jahren 1924 und 1925 zu den Wahlurnen gerufen. Den Reichstagswahlen vom Mai und Dezember 1924 folgten im Frühjahr 1925 die Wahl eines Reichspräsidenten und im Dezember die Gemeinderatswahl. Trotz des unterschiedlichen Charakters der einzelnen Wahlen lässt sich doch bei allen eine hohe Zustimmung zu den sogenannten Weimarer Parteien SPD und DDP, die hinter der 1918 gegründeten Republik standen, als Gemeinsamkeit feststellen.
Bei den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1924 konnte sich die SPD in Sindelfingen von ihrem Rekordtief von 1920 deutlich erholen und sich mit 29,5 % und 32,6 % wieder als stärkste Kraft in Sindelfingen etablieren (reichsweit 20,5 % und 26,0 %). Zweitstärkste Partei wurde jeweils die DDP mit 26,7 % und 24,8 % (reichsweit 5,7 % und 6,3 %).
Trotz dieser hohen Stimmenanteile für die demokratischen Parteien machte sich aber auch in Sindelfingen bereits eine verstärkte Abwanderung von Wählern zu den extremen Rändern des Parteienspektrums bemerkbar. So schnitt die KPD mit 20,7 % und 17,7 % überdurchschnittlich ab, am rechten Rand konnte die nationalistische DNVP jeweils zirka 10 % erzielen. Die 1924 erstmals angetretene NSDAP blieb mit 4,7 % und 1,9 % zunächst noch unbedeutend.
Aufschlussreich für die politische Struktur Sindelfingens ist auch das Ergebnis der Reichspräsidentenwahlen von 1925. Nach dem Tode des ersten sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert standen sich im zweiten Wahlgang Paul von Hindenburg als Kandidat der konservativen, aber auch der nationalistischen Kräfte und der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx als Vertreter der Weimarer Parteien“ gegenüber. Daneben kandidierte noch, ohne Aussicht auf Erfolg, der kommunistische Parteiführer Ernst Thälmann.
Nach der verheerenden Wahlniederlage von 1920 zeigen die Wahlergebnisse von 1924 eine Stabilisierung der republik-bejahenden Parteien SPD, DDP und Zentrum im Bezirk Böblingen. Zwischen der Mai-Wahl (linke Grafik) und der Dezember-Wahl konnten die drei Parteien sogar noch sechs Prozent zulegen. Stark behauptet zeigte sich vor allem in den ländlichen Gemeinden der Bauern- und Weingärtnerbund. Der Völkisch-Soziale Block (rechts-nationalistisch) trat bei diesen Wahlen erstmals an. Die USPD hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst, die Wähler sich anderen Linksparteien zugewandt. (Aus: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren, Sindelfingen 1999, S. 60.)
Katholik liegt vorne
Sicher nicht zuletzt aufgrund seiner großen persönlichen Popularität konnte Hindenburg die Wahl für sich entscheiden; damit war ein exponierter Vertreter der untergegangenen Monarchie, ausgestattet mit umfangreicher Machtbefugnis, oberster Repräsentant des jungen demokratischen Staates geworden. In Sindelfingen allerdings lag der demokratische Vertreter Marx mit 1.067 Stimmen vor Hindenburg (987). Dies ist umso bemerkenswerter, als der Katholik Marx im ganz überwiegend protestantischen Kreis Böblingen ansonsten weit abgeschlagen hinter Hindenburg rangierte.
Bei den Gemeinderatswahlen im Dezember 1925 etablierte sich mit der Freien Wirtschaftlichen Wählervereinigung“ (FRWV) eine neue politische Kraft in Sindelfingen. Entstanden ist sie offensichtlich als Abspaltung der DDP, wobei sowohl sachliche Differenzen als auch personelle Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt haben dürften. Die Freien Wähler konnten auf Anhieb drei der 18 Gemeinderatssitze erringen. Stärkste Fraktion blieb die DDP mit acht Sitzen, die SPD behielt ihre sechs Mandate, an die KPD fiel ein Sitz.
Unterschiede zu Böblingen
Sucht man nach Erklärungen für das prägnante Wahlverhalten der Sindelfinger, das sich beispielsweise auch deutlich von dem in der Nachbarstadt Böblingen abhob, ist ein Blick auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse hilfreich. Bis 1915 lebten die meisten Sindelfinger vom Doppelerwerb aus Landwirtschaft und Weberei. Zahlreiche Weber waren bereits früh gewerkschaftlich organisiert, die Sindelfinger SPD hat eine weit ins letzte Jahrhundert zurückreichende Tradition.
Viele der Weber nutzten die Chance auf besseren Verdienst, die sich mit der Ansiedlung der Firma Daimler im Jahr 1915 ergab, und wechselten in die Fabrikarbeit. Das bedeutete, dass in Sindelfingen trotz der Ansiedlung des großen Daimler-Werks nicht überwiegend die typische Industriearbeiterschaft vorhanden war, die in ihrem Wahlverhalten in weiten Teilen zu den Kommunisten tendierte, sondern eine Arbeiterschaft, die häufig über – wenn auch bescheidenen – Haus- und Grundbesitz verfügte.
Angestellte bei Daimler
Daneben gab es in Sindelfingen eine breite Handwerkerschicht und parallel zum Wachsen des Daimler-Werkes eine wachsende Zahl gehobener Angestellter. Hier dürfte vor allen Dingen das beträchtliche Wählerpotential der DDP gelegen haben, das insbesondere bei Kommunalwahlen seinen Niederschlag fand.
Dabei ist sicher auch zu berücksichtigen, dass Gemeinderatswahlen immer in hohem Maße Persönlichkeitswahlen sind und gerade auf der Liste der DDP viele stadtbekannte Persönlichkeiten aus Handwerk und Industrie vertreten waren.
Stark deutschnational geprägt fiel das Ergebnis der Reichspräsidentenstichwahl am 26. April in den Oberämtern Böblingen, Leonberg und Herrenberg aus. Außer in Sindelfingen erreichte Hindenburg nur in Dätzingen keine Mehrheit. In der katholischen Enklave des Oberamts votierten knapp 92 % der Wähler für den Kandidaten des katholischen Zentrums, Marx. Im ersten Wahlgang hatte im Oberamt Böblingen der gemeinsame Kandidat der Volkspartei und der Deutschnationalen, Jarres, noch 48,3 % erzielt. Lediglich in Sindelfingen (Braun/SPD, Hellpach/DDP) und Dätzingen (Marx) lagen andere Kandidaten vor Jarres. (Aus: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren, Sindelfingen 1999, S. 60.)
Erstveröffentlichung: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag, Sindelfingen 1999, S. 60-61.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung