Moderner Bau wird 1900 eröffnet
Die Sindelfinger Webschule
Autor: Klaus Philippscheck
Umstritten soll das Gebäude der Webschule gewesen sein, das im Jahre 1900 seine Pforten öffnete: mit Jugendstilanklängen und Formen des Historismus wurde nämlich ein Baustil nach Sindelfingen gebracht, der hier völlig neu war. Schließlich präsentierte sich Sindelfingen im Jahre 1900 noch als eine Stadt, in der kaum “moderne“ Gebäude zu finden waren; dies sollte sich erst in der darauf folgenden Zeit ändern.
Aber möglicherweise entschied man sich für diese „gewagte“ Form, weil mit diesem Gebäude schließlich ein hoher Anspruch einherging. Man schuf schließlich eine “Web- und Zeichenschule“, ein neues Domizil, und mancher, der in der Schule arbeitete oder dort gelernt hatte, nannte sich dementsprechend “Dessinateur“. Es wurde viel Wert auf eine solide künstlerische Ausbildung gelegt. Diese war notwendig, weil es um den eigentlichen Wert, den eigentlichen Schatz des Sindelfinger Hauptgewerbes ging: möglichst interessant gestaltete Entwürfe für die in ganz Deutschland berühmte Sindelfinger Jacquard-Weberei.
Dafür hatte es die Stadt auf sich genommen, für ein Schulgebäude tief in die Tasche zu greifen: Von den 28.000 Mark Baukosten musste die Hälfte aus dem Stadtsäckel bezahlt werden und die Personalkosten lasteten zum Teil auch auf den Schultern der sparsamen Sindelfinger. Aber diese Tatsache zeigt uns, welche enorme Bedeutung der Schule zugewiesen wurde.
Schon seit 1869 kümmerte man sich in Sindelfingen auf eine Art um die berufliche Ausbildung der Weber, wie dies in Württemberg nur noch in der Stadt der großen Textilindustrie, Reutlingen, zu finden war. Einzigartig waren die Anstrengungen, das Niveau der vielen hundert Sindelfinger Weber zu heben; deren Ausbildung wurde als immer dringender geboten“ bezeichnet.
Der markante Backsteinbau der neuen Webschule wurde im Jahre 1900 eröffnet
Schließlich waren es um 1880 herum 240 selbstständige Webmeister in Sindelfinger Mauern, die an ihren hochkomplizierten Jacquard-Webstühlen Stoffe zum Beispiel für die renommierte Stuttgarter Firma C. F. Faber webten: zum Teil Stoffe, deren gewagte Muster von berühmten Künstlern entworfen waren. Und schließlich brauchten auch die großen, renommierten Sindelfinger Jacquardwebereien besonders gute Fachkräfte, um in einer knallharten, internationalen Konkurrenzsituation bestehen zu können.
Mit einer eigenen, modernen Webschule, die wenige Jahre später auch einen Maschinensaal für mechanische Maschinen erhielt, konnte Sindelfingen nun überregional auf das hohe Niveau seiner Weber hinweisen. Schließlich inserierte man in ganz Deutschland, um weitere Textilbetriebe zur Übersiedlung nach Sindelfingen zu bewegen. Mit Wilhelm Reuff erhielt diese Schule 1903 dann auch einen äußerst agilen und kompetenten Leiter. Die Ansiedlung der Firma Daimler veränderte im Kriegsjahr 1915 die Lage völlig. Ab jetzt hatte die Webschule damit zu kämpfen, dass die Weberei nicht mehr Sindelfingens Vorzeigebranche war. Trotzdem schaffte sie es, wenn auch in stetigem Auf und Ab, ihre Aufgabe bis 1976 zu erfüllen, als die Schule in das neue Sindelfinger Berufsschulzentrum zog.
Nun beherbergte das Gebäude als “Haus der Handweberei“ einen Verein, der sich die Förderung der Handweberei zum Ziel gesetzt hat – bis heute. Seit dem Jahre 2000 befindet sich in einem Teil der Räume auch das Sindelfinger Weberei-Museum. Breiter Raum ist darin der Darstellung der sozialen Situation der Weber gewidmet, die von der typischen Doppelerwerbsstruktur von Landwirtschaft und Weberei geprägt war. Besucher finden hier also ein lebendiges Museum vor, in dem sich historische Information und praktiziertes Handwerk in idealer Form ergänzen. Damit hat das Gebäude gegenüber dem ehemaligen Kaufhaus Domo wieder eine wichtige Funktion in der Stadt.
Schräglaufende Fenster am Treppenhaus der Sindelfinger Webschule, die mittlerweile das Sindelfinger Webereimuseum beherbergt
Erstveröffentlichung: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag Sindelfingen 1999, S. 9.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung
Der Autor, Klaus Phlippscheck, war Lehrer in Sindelfingen und gehört zu den Mitbegründern des zeitreise-BB-Projektes. Seine Interessensschwerpunkte sind die Sindelfinger Stadtgeschichte, insbesondere die Webereigeschichte, sowie die Wiederentdeckung vergessener Sindelfinger Persönlichkeiten. Daneben arbeitete er auch zur Geschichte der Mühlen und der Grenzsteine im Landkreis BB.
Links:
Haus der Handweberei
Weberei-Museum Sindelfingen
Stadt Sindelfingen