Die Dagersheimer Zehntscheune
Autor: Dr. Günter Scholz
Autor: Dr. Günter Scholz
Genau 425 Jahre nach ihrer ersten schriftlichen Erwähnung im Jahre 1568 präsentiert sich die Dagersheimer Zehntscheuer 1993 nach umfassender Sanierung in neuem und ansprechendem Zustand. Die Anfänge der Dagersheimer Zehntscheuer reichen allerdings noch über das 16. Jahrhundert hinaus in die Vergangenheit zurück. Vermutlich zählte eine Zehntscheuer zum frühesten Baubestand von Alt-Dagersheim. Als eines der wichtigsten, zum Kern des alten Amtes bzw. des späteren Oberamtes Böblingen gehörenden Dörfer ist Dagersheim bereits 1252 als Pfarrei bezeugt und 1275 im »Uber decimationis«, dem Verzeichnis eines päpstlichen Kreuzzugszehnten aufgeführt. Zur Pfarrkirche und zum kirchlichen Vermögen zählte traditionell neben dem Pfarrhof und dem »Widemhof« ein der Kirche gewidmetes, anfänglich vom Pfarrhof, später vom »Widmaier« bewirtschaftetes Gut – vor allem die Zehntscheuer.
Kirche, Pfarrhof und Widemhof samt Zehntscheuer lagen in Dagersheim anders als in Böblingen in enger räumlicher Nachbarschaft. So wechselvoll wie die Geschichte des Dorfes Dagersheim im Verlauf der Geschichte war, so bewegt war auch die Geschichte seiner Zehntscheuer.
Herzstück der Dagersheimer Ortskernsanierung war die Sanierung und der Umbau der alten Zehntscheune in ein modernes Bürgerhaus. Den 1988 ausgeschriebenen Wettbewerb gewann das Architekturbüro von Prof. Tobias Wulf, Stuttgart.
Anfang des 14. Jahrhunderts war das Dagersheimer Kirchengut in der Hand der Pfalzgrafen von Tübingen und der Herren von Mönsheim. 1304 besaßen Eberhard von Mönsheim und seine Söhne aus den Veräußerungen des Pfalzgrafen Gottfried von Tübingen den Widemhof und den Kirchensatz, d. h. das kirchliche Stellungsbesetzungsrecht in Dagersheim. Nutzungen und Zehnten der Dagersheimer Pfarrei sowie der Kirchensatz gelangten 1339 an Walter von Urbach, der seinerseits 1342 Widemhof und Kirchensatz an das Chorherrenstift Sindelfingen verkaufte. Damals verzichteten die Pfalzgrafen Götz und Wilhelm von Tübingen zugunsten des Sindelfinger Stifts ausdrücklich auf ihre Rechte am Zehnten in Dagersheim. Nach der Gründung der Universität Tübingen (1477) teilten sich das Stift bzw. dessen Verwaltung und Universität den Dagersheimer Besitz je zur Hälfte. So trug Dagersheim zur finanziellen Ausstattung der rasch aufblühenden Universität Tübingen bei. Dieser Rechtszustand dauerte bis Mitte des 19., z.T. bis ins 20. Jahrhundert fort.
Die Zehntscheuer war einst Lagerstätte der Naturalabgabe des »Zehnten«, die freilich nur selten den zehnten Teil der Ernteerträge erreichte. Er bestand vor allem in Gestalt des »großen« Zehnten von den Feldfrüchten sowie des »kleinen« (Vieh-)Zehnten von den Gartenerträgen, vom Vieh und von Tiererzeugnissen wie Eier, Milch, Butter und Honig. Beansprucht wurde der biblisch begründete Zehnt von der Kirche, die hierbei seit dem 8. Jahrhundert durch das staatliche Zehntgebot unterstützt wurde. Vielfach gelangte der Zehnte auch in weltliche Hände.
Der Zehnt war eine von vielen Abgaben, welche die einfachen Leute auf dem Land einstmals zu leisten hatten. Nicht zuletzt am Zehnten, aber auch an den vielfältigen sonstigen Belastungen durch die Grund-, Leib- und Gerichtsherren sowie die Landesherrschaft entzündete sich der deutsche Bauernkrieg von 1525. Mit dem Bauernkrieg als »größter Massenerhebung« der älteren deutschen Geschichte steht nicht nur Böblingen durch die Schlacht vom 12. Mai 1525 in enger Beziehung. Auch Dagersheim ist mit dem Freiheitskampf von 1525 durch den Bauernhauptmann Leonhard Schwarz verbunden. Er ist im Herdstättenverzeichnis von 1525 als Besitzer eines Hauses in der Schmidgasse ausgewiesen. Von Schwarz wird berichtet, daß er Ende April 1525 mit aufständischen Bauern vor dem Kloster Hirsau erschienen sei und vom dortigen Abt Speise und Trank erhalten habe. Tags darauf habe er vergeblich versucht, die Stadt Calw zur Öffnung ihrer Tore zu bewegen. Anschließend zog Schwarz mit seinem Haufen zum Kloster Bebenhausen.
Näheres zum Dagersheimer Zehnten enthält die erste Erwähnung der Zehntscheuer von 1568. Danach mußten der Pfarrei Dagersheim aus dem Zehnten 14 Malter Roggen, 26 Malter Dinkel, 22 Malter Hafer, ein Malter Erbsen und ein Fuder Stroh in die Zehntscheuer abgeliefert werden.
Wie anderswo dürfte sich auch die Dagersheimer Zehntscheuer im 18. Jahrhundert in einem schlechten Zustand befunden haben. Deshalb wurde sie im Jahre 1800 neu aufgebaut. Als sie 1821 für eine Reihe von Jahren an die Gemeinde Dagersheim verpachtet wurde, ist sie beschrieben als »ein zweistöckiges Gebäude bis unter das Dach von Stein, 80 Schuh lang, 40 Schuh breit, im Widdumhof, enthält 2 Tennen, 2 Barn, 1 Speicher und Garbenböden«.
Mit der Zehntablösung Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Zehntscheuer ihre Funktion verloren. 1847 erwarb sie der Dagersheimer Gemeinderat Johann Jacob Geiger um 2500 Gulden. Seitdem war sie im Privatbesitz und diente landwirtschaftlichen Zwecken. Nach den Umbau- und Sanierungsplanungen, die im Jahre 1979 begannen, ist aus dem Ort bäuerlicher Lasten und Bedrückungen von einst jetzt eine Stätte der Kultur geworden.
Kennzeichnend für die Sanierung der Zehntscheune ist die strikte Trennung von Alt und Neu. Neu hinzu kamen zwei transparente Anbauten aus Glas: das Foyer mit Treppenaufgang an der Ostseite sowie der Aufzug an der südlichen Stirnseite.
Erstveröffentlichung: Sanierung der Zehntscheune. Festschrift anlässlich der Einweihung der Zehntscheune von Dagersheim, Hg.: Stadt Böblingen/Stadtteil Dagersheim, 1993, S. 5-7.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Der Autor, Dr. Günter Scholz, studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Anglistik an der Universität Tübingen. Seit 1981 leitete er das Böblinger Stadtarchiv, später auch das von ihm konzipierte Bauernkriegsmuseum. Von 1993 bis 2005 leitete er das Böblinger Kulturamt.
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