Die Böblinger Zehntscheuer
Autor: Dr. Günter Scholz
Unter den wenigen steinernen Geschichtszeugnissen von Böblingen, die den Zweiten Weltkrieg überdauert haben, nimmt die von Grund auf sanierte und mit einem Neubauteil versehene Zehntscheuer einen besonderen Rang ein: Seit ihrer Eröffnung 1987 bildet sie eine von Besuchern aus nah und fern gut angenommene Heimstätte der Geschichte und Kunst.
Blickt man in die Vergangenheit zurück, so zählte die Zehntscheuer an der alten Stadtmauer beim unteren Böblinger Tor zu den für die Stadtsilhouette der Amtsstadt Böblingen von einst besonders markanten Gebäuden – das historische Stadtmodell in der Zehntscheuer lässt dies noch heute erkennen.
Die Geschichte der einstigen Lagerstätte der Abgaben in Naturalien („Zehnten“) geht weit zurück. Bereits im Böblinger Lagerbuch von 1523 ist sie erwähnt (Stelle „An der Zehendschuren“). Der Zehnte, der freilich selten den zehnten Teil der landwirtschaftlichen Erträge erreichte, stand ursprünglich der Kirche zu, gelangte im Lauf der Zeit jedoch auch vielfach in weltliche Hand. Dabei gab es vielerlei Spielarten: Der „Große Zehnt“ von den Feldfrüchten, der „Kleine Zehnt“ von den Gartenerträgen und der „Tierzehnt“. Im deutschen Bauernkrieg von 1525, den das in der Zehntscheuer untergebrachte Bauernkriegsmuseum dokumentiert, bildete der Zehnte einen der Hauptpunkte bäuerlicher Kritik. Zumindest den „Kleinen Zehnten“ wollten die Aufständischen ganz abgeschafft wissen, den „Großen Zehnten“ wollten sie für die Besoldung der von ihnen frei gewählten Pfarrer und für die Armenpflege verwenden.
Die renovierte Zehntscheuer in Böblingen. Links befindet sich der gläserne Übergang zum Neubau der Städtischen Galerie. (Bild: Stefan Karl/Wikimedia Commons, Lizenz: CC-BY-SA-3.0)
Ein Zehnthof ist bereits im Böblinger Lagerbuch von 1495 genannt. Die Geschichte dieses Zehnthauses steht in engem Zusammenhang mit einem wichtigen Ereignis der Böblinger Kirchengeschichte zur Zeit der Witwenherrschaft der Gräfin beziehungsweise Erzherzogin Mechthild. 1468 übergab Mechthild, geborene Pfalzgräfin bei Rhein, die Böblinger Pfarrkirche mit allen Zehnten, Nutzungen und Zugehörungen sowie dem Patronatsrecht dem Kloster Hirsau; diesem war die Böblinger Kirche damit einverleibt („inkorporiert“). Die Mutter des Grafen Eberhard im Bart von Württemberg hat damals das Kloster Hirsau in so starkem Maß begünstigt, dass sie als dessen „zweite Stifterin“ bezeichnet wurde.
Im späten 16. Jahrhundert wurde die Zehntscheuer neu errichtet: Darauf bezieht sich die aus dem Jahr 1593 überlieferte Aufforderung an den herzoglichen Baumeister Georg Beer, er solle die Bausache wegen der Kloster Hirsauischen Zehntscheuer an den Kirchenrat in Stuttgart schicken. Neben der Zehntscheuer befand sich übrigens einst auch das Pfarrhaus. Im Pfarrhaus, so wird Anfang des 18. Jahrhunderts berichtet, gab es eine „Museum“ genannte Studierstube, sie sei wegen des benachbarten Sees und der daraus „aufsteigende Vaporum (Dämpfe) willen höchst ungesund“.
In der Folgezeit erfuhr die Zehntscheuer mehrfach Umbauten; am Ende des 18. Jahrhunderts war sie offensichtlich in keinem guten baulichen Zustand; damals stürzte ein Teil des Daches in den vorgelagerten Zwingergarten.
In dem an die Zehntscheuer angrenzenden Hof befand sich Anfang des 19. Jahrhunderts das Laboratorium des Apothekers Bonz, dessen Unternehmen später durch die Entwicklung des reinen Narkoseäthers Weltruhm erlangte. Der Bereich der Zehntscheuer beziehungsweise ihres Neubauteils bildet damit auch einen der Ausgangspunkte für die frühe industrielle Entwicklung von Böblingen.
Älteren Böblingern ist die Zehntscheuer noch aus der Zeit in Erinnerung, als sie zur Gewerbeschule umgebaut wurde (1923). Charakteristisch waren bis in die 30er Jahre die Störche, die das heute nicht wieder angebrachte Nest auf dem steilen Dach der Zehntscheuer bevölkerten und ihr die Bezeichnung „Storchenhaus“ einbrachten. Nach dem verheerenden Bombenangriff vom Oktober 1943 diente das geschichtsreiche Gebäude übrigens vorübergehend als provisorisches Rathaus.
Die Zehntscheuer an der alten Stadtmauer gehört zu den markantesten Gebäuden der Böblinger Stadtsilhouette. Seit 1987 beherbergt sie das Deutsche Bauernkriegsmuseum. (Bild: Susanne Schmidt)
Erstveröffentlichung: Denkmale in der Nachbarschaft – gesehen und besucht im Kreis Böblingen.Röhm Verlag Sindelfingen 1990.
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung und des Autors
Der Autor, Dr. Günter Scholz, studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Anglistik an der Universität Tübingen. Seit 1981 leitete er das Böblinger Stadtarchiv, später auch das von ihm konzipierte Bauernkriegsmuseum. Von 1993 bis 2005 leitete er das Böblinger Kulturamt.