Die Zehntscheuer in Deckenpfronn
Autor: Winfried Kuppler
Der Wandel ist fast unglaublich – seit dem Jahre 1987 sitzen die Deckenpfronner Bürger genau dort zu fröhlichem Feiern oder zu konzertantem Hören, wo einst ihre Vorfahren zur Sommers- und Herbstzeit die ohnehin kargen Erträge aus Gärten und Feldern an die Obrigkeit abliefern mussten.
Zwei große Tore kennzeichnen die Einmaligkeit dieses Baues in der Gäugemeinde Deckenpfronn: Tore, durch die einst der Zehnten eingefahren wurde, um bis unter die fast 15 Meter hohe Giebelspitze gestapelt zu werden.
Trotz aller Armut, die nur von einigen reichen Bauern des Ortes durchbrochen wurde, schien der Erntesegen im ausgehenden 18. Jahrhundert größer zu werden. Die alte, im unteren Dorf stehende Zehntscheuer wurde zu klein und an einen Bauern verkauft. Im Jahre 1807 wuchs die heutige Zehntscheuer in massiver Form und mehrfacher Größe empor. Imposant ist sie bis auf den heutigen Tag: eine seit dem Umbau zu einem Bürgerhaus auf ein Meter angewachsene Umfassungsmauer hütet das wertvolle Innere und lässt selbst im heißesten Sommer den Besucher frösteln, wenn er sich zu einem abendlichen Konzert dorthin aufmacht.
16 eichene Stützen waren es einst und sind es heute wieder, auf denen das Haus ruht. Über ihnen wölbt sich ein freitragender Dachstuhl. Gerade diese Eichenstützen, die auf Natursteinkapitellen ruhen, sind besondere Zeugen der Zeitveränderung. Die ersten Stützen mochten gewiss nicht viel länger als über das Jahr 1850 hinaus gedient haben, jenem Zeitpunkt, als die Deckenpfronner von der Last des Naturalzehnten erlöst wurden und sich die Ablösung in 25 Jahresraten von der Kameralverwaltung Calw erkaufen konnten. An zwei Bauern des Ortes wurde die Zehntscheuer damals verkauft.
Kühe und Schweine hielten nun Einzug. Es wurden Querwände in das Gebäude eingezogen, um die neue Nutzung zu ermöglichen und die Eigentümertrennung herzustellen. Die eichenen Stützen faulten im „Dampf“ der Ställe dahin, verschwanden in den aus Ackersteinen und Letten aus dem Egelsee aufgerichteten Wänden. Eine üppige Landwirtschaft erblühte, und die neuen Eigentümer bauten auf der anderen Seite der Langen Gasse (heute Herrenberger Straße) zwei stattliche Wohnhäuser dazu. Es blieben auch gute Teile dieser Eichenstützen erhalten. Und eine Anekdote ist nicht widerlegt, nach der das Kruzifix der wiederaufgebauten St. Nikolaus-Kirche eben aus einer dieser Stützen geschnitzt worden sein soll.
Die denkmalgeschützte Zehntscheuer in Deckenpfronn. (Bild: Susanne Schmidt)
Rund 100 Jahre lang wurden weiterhin Heu- und Erntewagen in die beiden Tore der Zehntscheuer eingefahren, doch jede Gabel Heu und jede Getreidegarbe gehörte dem Bauern selbst. Die Zeit war vorbei, als der gefürchtete Beauftragte des Calwer Zehntherren jede zehnte Garbe auf dem Felde umstieß, um sie dem Fiskus einzuverleiben.
Doch dieses Freiheitsempfinden ging in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Die Zehntscheuer, als Bollwerk des alten Dorfes in den Flammen des 21. April 1945 wundersam erhalten geblieben, hatte zwar nichts von ihrer Behäbigkeit eingebüßt, aber ihr äußeres Gesicht war grau und zerfurcht geworden. Das Alter nagte an ihr. Und die sinkenden Chancen der kleinbäuerlichen Wirtschaftsweise nagten am Einkommen der Menschen.
Auch die Zehntscheuerherren machten diese Erfahrung. Die inzwischen zum Trio angewachsenen Eigentümer fanden neue und bessere Einkommenswege. Der einst so hochgehaltene Stolz des Rindvieh- und Schweinehalters schmolz allmählich auf die bescheidene Hühnerhaltung und die jährliche „Schlachtsau“ zusammen. Allein: zwei überdimensionale Misten, die noch in den 70er Jahren im Zuge des Straßenbaues erneuert werden mussten, zeugten noch von jener Einschätzung, die im 18. Jahrhundert den Dunglegen in Deckenpfronn beigemessen wurde: „Man sagt, dass dort der Schultheiß sei, wo die größte Miste sitze“.
Heute ist es eine großzügige Treppenanlage und sind es Bäume, die sich über den einstigen beiden Misten der Zehntscheuer erheben, um dorthin zu lenken, wo der heute „Ertrag“ dieses den Deckenpfronnern lieb gewordenen Hauses liegt. Die Begegnung mit sich selbst und anderen sowie der Ortsvergangenheit möchte es sein, die diesen Ertrag heute und künftig auszeichnet. Ein Haus der Bürger ist die über 180 Jahre alte Zehntscheuer geblieben – doch aus der Fron ist die Freude, aus Abliefern des Zehnten ist Gewinn für das Ganze geworden.
Wieder ist seit dem Jahre 1987 die Zehntscheuer bis unter den „hohen Ziegel“ gefüllt, nicht mit Früchten und Korn, sondern mit Räumen und Zeugnissen der Deckenpfronner Geschichte. Unter dem herrlichen sichtbar gebliebenen doppelten Kreuzgebälk, wo einst die Frucht-, Hafer-, Dinkel- und Roggenkammer waren, entstand nun ein Begegnungsort für die Männer des Liederkranzes, ein Ort für Wechselausstellungen der Gemeinde. Eine Treppe tiefer wird bereits der Blick in den großen Kornsaal frei, dessen Empore hier von Flachs- und Hopfenstube flankiert wird. Die Handharmonikaspieler des Dorfes, der Landfrauenverein, der Schwarzwaldverein und die örtliche Volkshochschule haben in diesen Stuben ihr Domizil gefunden.
Das Erdgeschoss ist gleichsam die gastliche Stube des ganzen Hauses – Symbol der Gemeinschaft und des Zusammenhaltens. Der 250 Besucher fassende Kornsaal ist das kulturelle Zentrum des Bürgerhauses, in seiner Schlichtheit ein Ort der geistigen Besinnung und Konzentration. Nur das in Stein gehauene Wappen im zentralen Punkt hebt sich vom neutralen Weiß der Kalkwände ab, nur einige Deckenpfronner Familienwappen wollen Aufruf zum „Aufeinanderzugehen“ sein. Beschützt wird der Gast von den mächtigen Eichenstützen und dem alten Holzgebälk, das sich in fünf Meter Höhe über ihm schließt.
Im Deckenpfronner Ortswappen weist ein Abtsstab darauf hin, dass die Erträge von Gütern der Markung Deckenpfronn jahrhundertelang dem Kloster Hirsau zustanden. (Bild: Susanne Schmidt)
Erstveröffentlichung: Denkmale in der Nachbarschaft – gesehen und besucht im Kreis Böblingen, Röhm-Verlag, Sindelfingen 1990.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung