Schönaich um die Mitte des 19. Jahrhunderts
Not- und Hungerjahre
Autor: Fritz Heimberger
Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts, befand sich … Schönaich in einer Krise sondergleichen. Wirtschaftliche Not und politische Unruhen begleiteten die Wandlung vom Bauerndorf alter Prägung zur neuzeitlichen Wohn- und Industriegemeinde.
Auf der Markung lebten schon längst zu viele Menschen. Sie fanden, zumal bei der starken Zersplitterung (Parzellierung) des Besitzes, kein Auskommen in der Landwirtschaft mehr. Neues Land ließ sich nicht gewinnen, und die Auswanderung half nicht viel. Mehr bedeutete die in Heimarbeit betriebene Leinenweberei1 (Leinwandhandel). Doch auch sie brachte keine durchgreifende Besserung der Verhältnisse. Anfang der 40erJahre spitzten sich die Verhältnisse zu. Es gab mehrere Jahre hintereinander Missernten.2 Die auf die Landwirtschaft angewiesenen Bürger wurden ganz mittellos, und so musste die Gemeinde 1844 die Bezahlung der noch von den Einwohnern ausstehenden Staatssteuern übernehmen, da diese trotz Exekution“ der Schuldner infolge völliger Armut derselben nicht hatten beigetrieben werden können. Als dann Mitte der 40er Jahre eine Stockung in den für das Dorf lebensnotwendigen Leinwandhandel, ja in den Gewerben überhaupt, eintrat, brach die Krise in Form einer allgemeinen Arbeitslosigkeit offen aus. Nicht wenig trug zu dieser das Aufkommen auswärtiger Fabriken bei, die den einfachen Handwebern Arbeit und Verdienst wegnahmen.
Ein 1846 ins Leben gerufener Armenverein bemühte sich, Hilfsmaßnahmen für die Mittellosen – Sammlungen von Geld, Kartoffeln und Korn – zu koordinieren. Die Behörden aber versuchten, den Erwerbslosen Arbeit zu verschaffen. Es hielt jedoch schwer, die Armen notdürftig mit Spinnen oder Arbeiten im Wald bzw. an den Straßen zu beschäftigen. So ging es wieder einmal ums tägliche Brot. Doch der Schönaicher Fruchtvorrat reichte nicht einmal hin, um die Menschen auch nur vor dem bloßen Hungertode zu schützen. So musste der Gemeinderat im Ausland“ Frucht kaufen oder von der Staatsverwaltung aufnehmen. Er verteilte sie an die Bedürftigen und setzte diesen einen besonders herabgesetzten Preis, den sog. Gnadenpreis“, an. Aber nicht einmal diese gespendete Frucht (Getreide) konnten die Armen des Dorfes bezahlen.
Infolge der allgemeinen Not kam es vielmehr zu Unruhen. Sicherheitswachen mussten um 1847 Leben und Eigentum der Bürger schützen. Die darbenden Menschen verlegten sich auch aufs Betteln und zogen weit über Land. Geldmangel und Schulden führten jetzt zu zahlreichen Konkursen. Die wirtschaftlichen Unruhen griffen schließlich auf das politische Gebiet über und nahmen hier 1848 einen revolutionären Charakter an.
Der Ende März 1848 durch wilde Gerüchte von einer französischen Invasion Württembergs (sog. Franzosennacht) ausgelöste Elan hielt nicht lange an und der revolutionäre Schwung verpuffte bald. Eine Bewegung, die auf demokratische Bestellung des lebenslänglich bestellten Gemeinderats ausging, verlief im Sande. Ein von den Bürgern nicht mit dem nötigen Nachdruck verlangter Rücktritt des gesamten Schönaicher Gemeinderats wurde nicht realisiert. Ebenso scheiterte an Armut und Interesselosigkeit der Einwohner die versuchte Aufstellung einer Bürgerwehr (…). Auch der am 5. Januar 1849 ins Leben gerufene Volksverein“, die erste Parteigründung in der Schönaicher Geschichte, blieb ohne Rückhalt und konnte an der Lage der Dinge nichts mehr ändern. (…)
An den Gründen für das Scheitern der revolutionären Bewegung hat man schon viel gerätselt. Sicherlich gab es in Deutschland genug soziale und wirtschaftliche Not als Sprengstoff für eine Revolution, aber die Verhältnisse waren in vieler Hinsicht noch zu wenig entwickelt und die Bevölkerung ganz in konservativen Vorstellungen und Anschauungen befangen. So lagen die Dinge jedenfalls auch in Schönaich. Die Böblinger Oberamtsbeschreibung von 1850 berichtet uns, die Schönaicher seien … einfach, offen, teilnehmend, gutartig“, und fährt bezeichnenderweise fort: Dabei fürchten sie öffentliche Schande und sind sehr kirchlich gesinnt.“ Den kirchlichen Sinn der Einwohner zeigte auch die 1840 mit namhaften Opfern“ neu erbaute Kirche. Ja, um 1850 waren die kirchlichen Verhältnisse in Schönaich so gut entwickelt (Sonntagsheiligung, Hausandacht, Jünglingsverein), dass die Synode dem Pfarrer und dem Gemeinderat ihr Wohlgefallen darüber ausdrückte. Die konservative Haltung ließ die Schönaicher an der guten alten Sitte, ließ sie an ihrer Tracht und den alten Hochzeitsritualen mehr festhalten als die Nachbardörfer – freilich auch an dem, was man damals schon Aberglauben“ nannte. Kurz, man konnte den Eindruck haben, dass sie noch um mehrere Jahrzehende zurück (waren)“.
… Schon 1849 häuften sich wieder die Schuldklagen. Die Verdienstlosigkeit nahm erneut zu, und es drohte die völlige Verarmung des Ortes. Der größte Teil der Bürger konnte nicht einmal mehr Saatfrucht anschaffen. Manche Familie wusste nicht, wie sie sich kleiden sollte und hatte weder morgens noch abends etwas zu essen – im eigens dafür errichteten Suppenhäuschen“ ließ die Gemeinde unentgeltlich Suppe austeilen.
Auspfändungen der Bürger, um deren Schuldigkeiten einzutreiben, blieben erfolglos, da niemand die ausgepfändeten Gegenstände kaufen konnte. Die Rodung und Austeilung von Wald und Allmanden,3 um der Landwirtschaft aufzuhelfen, war untunlich, denn sie hätte nur wenig kulturfähiges Land erbracht. So blühte die Auswanderung wie noch nie. Allein im März 1852 baten über 200 Bürger und Ledige, sie auf Kosten der Gemeindekasse nach Amerika auswandern zu lassen.
Wichtiger als der fehlgeschlagene Versuch, Maulbeerbäume als Grundlage einer Textilindustrie anzubauen, waren jetzt erste Versuche, Industriebetriebe im Dorf anzusiedeln, um die nötigen Arbeitsplätze und damit Verdienst ins Dorf zu bekommen. Doch das Vorhaben von Chr. Kik in Stuttgart, zwischen Speidels- und Rauhmühle eine Seidenzwirnerei zu erstellen, scheiterte u. a. an einer beinahe abergläubischen Furcht vor den Nachteilen einer Fabrik in moralischer Beziehung“. Schließlich machte der von Schönaich gebürtige Präzeptor4 Binder aus St. Gallen die Weißstickerei im Dorf als Heimarbeit heimisch.
Erst Mitte der 50iger Jahre war die wirtschaftliche Stockung vorüber und die Segensjahre“ 1855 – 1859 brachten dem Dorf die gewünschte Erholung. Doch fanden die Schönaicher jetzt meist Arbeit und Verdienst in neuerdings angesiedelten Fabriken der Nachbarschaft, so seit 1857 in der Zuckerfabrik Böblingen. Erst seit Ende der 60er und in den 70er Jahren siedelten sich Korsettfabriken, noch später andere Textilbetriebe und schließlich Zigarrenfabriken in Schönaich selbst an. Das war der Weg zur modernen Industriegemeinde. (…)
Erstveröffentlichung: Der Keltische Münzschatz von Schönaich und die Geschichte des Fundes. Herausgegeben vom Förderkreis Kunst Schönaich e.V., Schönaich 1989, S. 32-35.
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung der Familie Fritz Heimberger und dem Förderkreis Kunst Schönaich e.V.
Der Autor, Dr. Fritz Heimberger, war Historiker und arbeitete viele Jahre im Auftrag des Landkreises Böblingen in der Funktion eines Kreishistorikers.
Die 58 Seiten starke Broschüre “Der Keltische Münzschatz von Schönaich und die Geschichte des Fundes“ ist zum Preis von 8,00 Euro im Rathaus der Gemeinde Schönaich oder über die Kunst- und Werkschule Schönaich erhältlich.