Eine Richtstätte des Mittelalters
Der Galgenberg in Böblingen
Autor: Erwin Funk
Die Bezeichnung “Galgenberg“ reicht bis weit ins Mittelalter zurück. Wir finden sie in der ältesten Vermessungskarte von Böblingen. Aber schon in den altwürttembergischen Lagerbüchern aus der österreichischen Zeit 1520 – 1534 ist “Uff dem Galgenberg“ als Böblinger Gewand- und Flurnamen verzeichnet. Sicher hat die Richtstätte schon seit der Stadterhebung (um 1260) bestanden. Nach der Sindelfinger Reipchius-Chronik (Nr. 581) wurden am “3. Oct. 1588 zwen Dieb an das neu aufgericht Hochgericht zu Böblingen Stuttgarter Steig zu gehenckt“; hiernach war also im Jahr 1588 der Gerichtsplatz bereits vom Galgenberg verlegt worden. Wie aus anderer Quelle hervorgeht, befand er sich nunmehr in der Senkung zwischen dem Sanatorium und dem Eberlen’schen Jagdhaus.
Die Stadt Böblingen ist im Besitz eines Bildes, (…) das den Vorgang einer der letzten Hinrichtungen im Jahr 1819 darstellt. Es handelt sich hier um einen 20-jährigen Vatermörder, dem man, nachdem er zuvor erdrosselt worden war, mit dem Rad die Arme und Beine brach und ihn dann auf die Speichen flocht. Sein 26-jähriger Schwager wurde enthauptet. Ihre Köpfe wurden auf Pfähle gesteckt. Zur Hinrichtung dieser Mörder sei eine solche Menge Neugieriger zusammengeströmt, dass in Böblingen kein Bissen Brot mehr zu bekommen war.
In früheren Zeiten wurde auf vielerlei Weise die Strafe vollzogen. Für leichtere Straftaten war der Pranger (Schandpfahl, an dem der Missetäter, in Halseisen gezwängt, vor der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurde), das Drillhaus (ein drehbares, käfigartiges Gehäuse), oder der Narrenstall (ein Gefängnis für leichtere Vergehen) ausersehen. Schwerverbrecher wurden dagegen dem Stadtgericht, das unter Vorsitz des Vogts stand, übergeben. Wer hartnäckig leugnete, wurde „peinlich befragt“ (d. h. ein Geständnis wurde mit Folterinstrumenten erpresst). Zum Vollzug der Todesstrafen dienten der Galgen, die Enthauptung und die Räderung. Die Hinrichtungsstätte hieß “Richtstatt“, „Hochstatt“ oder „Hauptstatt“, wo die Verurteilten durch den Scharfrichter (im Mittelalter „Henker“ oder „Schelm“ genannt) enthauptet wurden. (…)
In Böblingen wurden die zum Tod verurteilten Verbrecher, nachdem der Herzog seine Einwilligung dazu gegeben hatte, aus dem Bärenturm, später aus dem Grünen Turm geholt, auf eine Kuhhaut gebunden und auf den Galgenberg geschleift, wo der Galgen – weithin sichtbar – bereitstand. Die Hinrichtungen waren in manchen Gegenden nicht nur öffentlich, es musste sogar, wie z. B. aus der Calwer Chronik hervorgeht, die gesamte Schuljugend dem grausamen Schauspiel von Amts wegen zum abschreckenden Beispiel beiwohnen. (…)
Der Grüne Turm erhielt seinen Namen von dem grün glasierten Ziegeldach.
An den Galgenberg grenzte nach Süden das Untere Hüttental (heutige Grenze ist die Landhausstraße) und nach Norden das Untere Lauch. (…) Bis anfangs der dreißiger Jahre hatte er zum großen Teil noch Waldbestand. (…) Das Wäldchen wurde erst Mitte des letzten Jahrhunderts angelegt. Vorher war der Wiesenplatz als Bleiche benützt worden. Die ausgebreiteten großen Zeugstücke nahmen sich recht seltsam auf dem weithin sichtbaren grünen Rasen aus und gaben ihm ein besonderes Aussehen. Viele Einwohner von Böblingen beschäftigten sich nämlich um die Mitte des letzten Jahrhunderts noch mit Baumwollen- und Linnenweberei, die von tüchtigen Meistern, in großem Umfang, fabrikartig mit Maschinen betrieben wurde. Die fertige Leinwand wurde auf der Bleiche der Sonne ausgesetzt, daher stammen die Bezeichnungen Weberbleiche oder Bleichwiesen. (…)
Neben der großen Bleiche befanden sich Brechgruben. In ihnen wurde der Hanf … auf einem Rost übers Feuer gelegt und so gedörrt und dann gebrochen. Hierauf kam er in den Häusern auf die Hechelbank und wurde zu Garnen und Seilen verarbeitet. Die stattliche Zahl von 21 Seilermeistern und 6 Gesellen war hierbei tätig.
Wenn wir es heute auch kaum glauben können: An den Hängen der Waldburg und des Galgenbergs wurden einmal Reben angebaut: Sylvaner, Elbling und Affenthaler. Da der Ertrag gering und die Qualität des Weines nur mittelmäßig waren, wurden die Weinberge teils 1738 und teils 1765 ausgereutet; an die Stelle des Weinbaus trat dann der weit lohnendere Obstbau.
Der Galgenberg hat auch sonst in der Geschichte der Stadt und darüber hinaus eine Rolle gespielt. Wie aus der Ortschronik von 1850 hervorgeht, befanden sich damals dort noch unbedeutende Spuren von Verschanzungen, von denen übrigens nicht nachgewiesen werden kann, ob sie aus frühester Zeit oder aus der Zeit des Bauernaufruhrs herrühren. Über den Bauernaufstand ist bekannt, dass die Bauern am 12. Mai 1525 nach der Erstürmung Herrenbergs ihr Lager zwischen Böblingen und Sindelfingen wieder bezogen hatten. (…) Die Kriegshandlungen, die über den Galgenberg hinweggingen spielten sich aber hauptsächlich auf dem Goldberg ab. (…)
Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Galgenberg auch der Stadtverteidigung dienstbar gemacht. Im Wäldchen war auf einem hohen Eisengerüst eine Flak (Flugzeugabwehrkanone) aufgestellt. (…) Da Tausende von Obdachlosen unterzubringen waren, wurden auf dem Galgenberg Behelfsheime aufgestellt, und zwar an der heutigen Galgenbergstraße (Nordseite). …
Die unverzüglich nach dem Großangriff vom 7./8. Oktober 1943 von der Regierung eingesetzte Stelle für die Beseitigung der Fliegerschäden (Leitung der Sofortmaßnahmen beim Landrat) hat sich dafür verwendet, dass anstatt der von der NSDAP vorgesehenen Behelfsheime (im Volksmund Reichshundehütten) menschenwürdige kleine Wohngebäude erstellt wurden. Sie waren so geplant, dass sie obdachlosen Bauwilligen in der Lage waren, ihre Behelfsheime zum großen Teil selbst zu bauen.
Der Galgenberg hat insofern während des Zweiten Weltkrieges eine nicht geringe Bedeutung erlangt, als er sich zum Schutze der Bevölkerung für den Bau eines Luftschutzstollens anbot. Beinahe gleichzeitig mit dem Schlossbergbunker hatten die Belegschaften der Lufthansa (sie unterhielten in Böblingen noch Werkstätten auf dem Flugplatz), des Metallwerks Leibfried und des Fliegerhorstes damit begonnen, einen Stollen in den Galgenberg zu treiben. Bald darauf schaltete sich auch die am Galgenberg und in der Nähe wohnhafte Bevölkerung ein, und es entstanden Eingänge in der Landhausstraße und Jahnstraße. (…)Durch ein ausgeklügeltes Stollensystem waren alle Gänge – von den Hauptgängen bis zum hintersten Seitenstollen – miteinander verbunden. (…) Gegen Ende des Krieges sind die Bunker kaum noch verlassen worden. Man hatte sich dort häuslich eingerichtet, der halbe Hausrat vor allem das sog. Luftschutzgepäck hatte im Bunker auch noch Platz finden müssen. (…)
Quelle: Aus Schönbuch und Gäu. Beilage des Böblinger Boten, 11-12/1969
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung des Heimatgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu e. V.
Der Autor, Erwin Funk (1907-1999), war einer der Ersten, die sich nach dem 2. Weltkrieg der Böblinger Stadtgeschichte zuwandten. Neben seiner Tätigkeit als Standesbeamter begann er Anfang der 1960er Jahre als Stadtarchivar zu wirken. Umfangreiche Veröffentlichungen zur Fliegerstadt und Garnison und zur Geschichte Böblingens im 3. Reich.