Einschneidender Moment der Stadtgeschichte
Das Erinnerungs-Relief in der Stiftskirche St. Martin in Sindelfingen
Autor: Dr. Gerhard Betsch
In der Nordwest-Ecke der Sindelfinger Martinskirche findet man ein Sandstein-Relief, das auf 1477 datiert ist. Vermutlich war es früher farbig gefasst. Es ist leider oft von Stapelstühlen oder anderem Inventar verdeckt und wird von Besuchern wenig beachtet. Ursprünglich befand es sich über dem Eingangsportal in den ummauerten Klosterhof, wo es auf die Gründung eines regulierten Augustinerchorherrenstifts im Jahre 1477 durch Graf Eberhard im Bart und seine Mutter Mechthild hinwies, nachdem das „vorherige Collegium“ im Jahr zuvor nach Tübingen verlegt worden war.1In der Literatur über Sindelfingen ist das Relief meines Erachtens bisher nicht gebührend gewürdigt worden. Dabei ist es in doppelter Hinsicht bedeutsam. Künstlerisch – Hans-Martin Decker-Hauff und andere schreiben es dem sog. „Meister des Volland-Epitaphs“2zu – und historisch, weil es an einen für die weitere Entwicklung Sindelfingens einschneidenden Moment erinnert.
Auf dem Relief sind drei Figuren dargestellt, die unterschiedlich groß und in bemerkenswerter Stellung gezeigt werden. Die zentrale Figur ist ein Christus, der nur mit einem Lendentuch bekleidet ist. Er trägt die Dornenkrone. Sein Haupt umgibt ein Nimbus, ein Heiligenschein. Seine Wunden sind deutlich sichtbar. Man hat nicht an einen Schmerzensmann zu denken. Vielmehr wird der Auferstandene dargestellt, der sich seinen Jüngern durch seine Wundmale zu erkennen gibt (Joh. 20, 20). In der Stuttgarter Stiftskirche findet man eine ähnliche Christusdarstellung. Der Stuttgarter Christus hat einen Schutzmantel, in dem sich Vertreter der geistlichen und weltlichen Stände bergen. Also ein Schutzmantel-Christus, Gegenstück zur recht häufig anzutreffenden Schutzmantel-Madonna. Der Sindelfinger Christus hat die Arme segnend erhoben. Leider sind die Unterarme weggebrochen.
Zur Rechten und zur Linken des Christus knien zwei Figuren in anbetender Haltung: links eine weibliche Gestalt, die nach ihrer Kopfhaube eine verheiratete Frau oder Witwe sein muss; rechts ein Ritter in der Rüstung. Beiden Figuren sind ihre Wappen beigegeben. Das Wappen der Frau zeigt den Bindeschild Österreichs, den Pfälzer Löwen, und die bayerischen Rauten. Das Wappen des Ritters zeigt die Hirschstangen der Württemberger und die Mömpelgarder Barben. Man kann die Frage stellen, ob die Plastik farbig gefasst war. Farben hätten die Wappen deutlicher hervortreten lassen. Die Unterschrift identifiziert die beiden Figuren als Erzherzogin Mechthild von Österreich und Graf Eberhard von Württemberg und Mömpelgard (französisch: Montbéliard).
Das Relief stellt natürlich Christus auf ein Podest und damit erhöht in die Mitte. Die Plastik und die Unterschrift sind darauf abgestimmt, den höheren Rang der Erzherzogin gegenüber dem Grafen herauszustellen: Die Erzherzogin – als „illustrissima domina“ bezeichnet – kniet zur liturgisch Rechten des Christus (maßgeblich ist die Blickrichtung der Christusfigur); die Bildebene ist leicht gedreht, sodass die Erzherzogin dem Betrachter näher erscheint. Der Graf ist, obwohl Sohn der Erzherzogin, dem Range nach deutlich unter der Erzherzogin einzuordnen. Er ist nur „illustris“ und kniet zur liturgisch Linken Christi.
Dem kundigen Betrachter am Endes 15. Jahrhunderts – in einer ständisch gegliederten Gesellschaft lebend – waren diese feinen Andeutungen unmittelbar verständlich und die Wappen wahrscheinlich vertraut.
Das Sandsteinrelief in der Sindelfinger Martinskirche erinnert an ein landesgeschichtlich bedeutendes Ereignis im Jahre 1477. Die Inschrift erinnert an die Verlegung des Sindelfinger Chorherrenstifts nach Tübingen im Jahre 1476 und an die Gründung eines klosterähnlichen „Ersatz-Chorherrenstifts“ in Sindelfingen. Darüber erkennt man das Wappen Mechthilds von der Pfalz (links) und das Wappen ihres Sohnes Graf Eberhards im Bart (rechts). (Foto: Susanne Schmidt)
Die Inschrift lautet:
Illustrissima D[omi]na Mechtildis nata Palatina Reni ac Archiducissa Austrie et illustris Eberhardus Comes de Wirtemberg et eiusdem filius huius sacri cenobij post prioris collegii translatione[m] ad Tubinge[n] restauratores atque canonice recte instauratores anno domini M CCCC LXXVII
Zu deutsch:Die hochedle Herrin Mechthild, eine geborene Pfalzgräfin bei Rhein und Erzherzogin von Österreich, und der edle Eberhard Graf von Württemberg, deren Sohn, [waren] – nachdem das vorherige Collegium nach Tübingen verlegt worden war – die Restauratoren dieses heiligen Chorherrenstifts und nach kanonischem Recht dessen Gründer im Jahr des Herrn 1477.
Mechthild von der Pfalz (geb. 7. März 1419 in Heidelberg, gest. 22. August 1482 daselbst) war die Tochter des Kurfürsten Ludwigs III (genannt der Bärtige) von der Pfalz. Am 21. Oktober 1436 heiratete sie in Stuttgart den Grafen Ludwig I von Württemberg-Urach. Zu ihrem „Widdum“ (Witwengut) gehörte die Vogtei über das Chorherrenstift St. Martin in Sindelfingen. Das vierte Kind dieser Ehe war Eberhard (1445-1496), als Graf Eberhard V, genannt Eberhard im Bart, seit 1495 Herzog Eberhard I von Württemberg.
1450 starb Graf Ludwig. Seine Witwe Mechthild heiratete 1452 in zweiter Ehe den Erzherzog Albrecht VI von Österreich (1418-1463), einen Bruder Kaiser Friedrichs III. Eigentlich hätte Mechthild ihr Witwengut aus erster Ehe nun zurückgeben müssen. Aber ihr Sohn Eberhard überließ ihr diese Güter auf Lebenszeit, was auf ein sehr herzliches Verhältnis von Mutter und Sohn schließen lässt. Nach dem Tode ihres zweiten Gatten residierte Mechtild in Rottenburg/Neckar, wo sie einen kleinen Musenhof um sich sammelte.
Mechthilds Bedeutung liegt auf dem Gebiet der Förderung von Kunst und Wissenschaft. Aus einer Familie stammend, die traditionell die Universität Heidelberg förderte, bewog sie ihren zweiten Gatten dazu, im Jahre 1457 die Universität Freiburg zu gründen. Der Anteil Mechthilds an dieser Gründung muss erheblich gewesen sein. Das älteste Szepter der Universität Freiburg zeigt das Wappen Mechthilds, nicht das ihres Gatten Albrecht!
An der Gründung der Universität Tübingen im Jahr 1477 durch ihren Sohn Graf Eberhard hatte Mechthild ebenfalls einen bedeutenden Anteil. Sie ließ ihre vielfältigen Beziehungen spielen. Um die Universität finanziell zu sichern, verlegte man unter wesentlicher Mitwirkung Mechthilds das Sindelfinger Chorherrenstift nach Tübingen an die dortige Kirche St. Georg, die deshalb heute noch Stiftskirche heißt. Die Idee war: Die Universität sollte den Großteil der Einkünfte des Stifts beziehen. Mindestens die Doktoren der Theologie und des Kirchenrechts sollten als Besoldung eine Chorherrenpfründe im Stift St. Martin erhalten (und damit fürstlich besoldet sein). Um den Heiligen Martin nicht zu kränken, und um kirchenrechtlichen Einwänden zu begegnen, gründeten Mechthild und Eberhard in Sindelfingen ein Ersatz-Chorherrenstift, das natürlich nur bescheiden ausgestattet war. Dabei handelte es sich um eine klosterähnliche Niederlassung von Augustinerchorherren der strengen Windesheimer Kongregation. Es wurde in der Reformation 1536 aufgelöst.
Übrigens war der Sindelfinger Chorherr Johannes Vergenhans (ca. 1425 – 1510) höchst wahrscheinlich ein Vetter des Universitätsgründers Eberhard. Die Mutter des Johannes Vergenhans gilt als außereheliche Tochter von Graf Eberhard IV von Württemberg, welcher der Großvater von Eberhard im Bart war3.
Johannes Vergenhans, der seinen Namen zu Nauclerus gräzisierte, war Berater von Eberhard im Bart, Gründungsrektor der Universität Tübingen und lange Jahre ihr Kanzler. Er war Kirchenrechtler und verfasste eine Weltchronik.
Auf den geschilderten Vorgang – Verlegung des bedeutenden Chorherrenstifts St. Martin nach Tübingen und die Gründung eines Ersatz-Chorherrenstifts im Jahre 1477 – bezieht sich das oben besprochene Relief. Es ist ein steinernes Dokument, das einen wichtigen Vorgang bei der Gründung der Universität Tübingen festhält.
Die Sindelfinger Stiftskirche (Martinskirche) um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals muss sich das Erinnerungsrelief noch an seinem angestammten Platz über dem spitzbogigen Portal, das durch die Mauer in den Klosterhof führte, befunden haben. (Aus: Beschreibung des Oberamts Böblingen, Stuttgart/Tübingen 1850)
2018 wurde von dem bedeutenden Sindelfinger Relief ein 3D-Scan angefertigt. Aus diesen Daten wurde in einem 3D-Druckverfahren eine Sandgussform hergestellt. Diese bildete den Ausgangspunkt für einen klassischen Metallguss. Der so entstandene Bronzeguss ist etwas kleiner als das Original und wurde nahe des ehemaligen Aufstellungsortes bei der spitzbogigen Eingangstür in den alten Klosterbereich angebracht. Ältere Abgüsse des Reliefs befinden sich im Böblinger Bauernkriegsmuseum und im Uracher Residenzschloss.
2018 wird von dem Erinnerungsrelief ein 3D-Scan abgenommen. (Foto: K.Philippscheck/Stadt Sindelfingen)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Der Autor, Dr. Gerhard Betsch, Akademischer Oberrat i.R., lebt und arbeitet in Weil im Schönbuch.
Literatur: Decker-Hauff, Hansmartin: Text zum Sindelfinger Relief. In: 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1477 1977. Attempto-Verlag Tübingen 1977. Blatt Februar.
Referenz
↑1 | Der Hinweis zum ursprünglichen Standort des Relief findet sich u.a. in der Beschreibung des Oberamts Böblingen aus dem Jahre 1850 und – noch ausführlicher – bei Carl Alexander von Heideloff in seiner 1855 erschienenen „Kunst des Mittelalters in Schwaben“. Die Verlegung des Reliefs ins Kircheninnere kann also erst danach erfolgt sein; vermutet wird ein Zusammenhang mit der Restaurierung der Kirche durch Christian F. Leins im Jahre 1862. |
---|---|
↑2 | Grabstein der bedeutenden Markgröninger Bürgerin Elisabeth Volland aus dem 15. Jh. in der nach ihr benannten Vollandkapelle der Bartholomäuskirche Markgröningen. |
↑3 | Vgl. Decker-Hauff, Hansmartin, und Wilfried Setzler: Die Universität Tübingen von 1477 bis 1977 in Bildern und Dokumenten. Tübingen 1977. S. 24.- Natürlich gibt es auch Historiker, welche die Verwandtschaft von Eberhard im Bart und Vergenhans bestreiten (Dieter Stievermann in der Festschrift „900 Jahre Haus Württemberg“, Stuttgart 1984. S. 84). |