Die Darmsheimer Seelinde – ein schattiges Plätzchen
Die Linde sieht man wohl, jedoch, wo liegt der See?
Autor: Josef Wohlschlager
Bei Gewandnamen fragt man sich oft nach ihrem Sinn und Ursprung. Viele, sofern sie nur verständlich sind, sind auch deutbar und haben einen realen Bezug. Gilt das auch hier?
„Dr Sei“, so nennen die Darmsheimer eine weite, flache Wiesenmulde einen halben Kilometer nordöstlich vom Ort, im Winkel zwischen den Landstraßen, die nach Maichingen und Sindelfingen führen. Sie haben ihn auch alle schon gesehen, den „Sei“, er ist kein Phantom. Wogegen er von vielen Sindelfingern, auch Alteingesessenen, noch nicht bemerkt worden sein mag. Doch er existiert, als Wasserfläche, selten freilich und immer nur für wenige Tage – eine Laune der Natur, eine wundersame Erscheinung. Er existiert und seine Existenz verdankt er, wie vieles, das in der Landschaft auffällt, geologischem Wirken. Hier ist eine Übergangsstelle von der erdgeschichtlichen Formation des Keuper in die des Muschelkalks.
Das Keuperland schwingt in weiten Mulden und Rücken. So ist es hier, zwischen See und Buchental. Von Osten senkt sich über das Affalterried die Seemulde herein, tiefer und breiter werdend. Sie taucht hinab ins Buchental, das sich nun eilig der Schwippeaue zuwendet.
Nun bräuchte man talabwärts nur einen Damm aufzuschütten und ein schöner kleiner Stausee wäre fertig. So hat’s die Natur gemacht! Sie hat eine Bodenschwelle eingelegt. Die Mulde östlich dieser Schwelle liegt, vielleicht durch spätere Absenkung, oder auch durch umkehrende Erosion, tiefer. Sie wäre immer mit Wasser gefüllt, hätte sie nicht an ihrer tiefsten Stelle ein Loch. Dieses wirkt wie der Abfluß einer Badewanne. Nun ist alles ganz einfach: Es braucht nur mehr Wasser zuzufließen, als durch das Loch entweichen kann. Das geschieht zuzeiten. Anläßlich heftiger Schneeschmelze zum Beispiel oder im Sommer nach starken Gewittern. Weil der Ablauf immer offen ist, fließt auch der See jeweils innerhalb weniger Tage aus. (Diese reizvolle Naturerscheinung wurde leider, in jüngster Zeit erst, als grundwassergefährdend eingestuft, das Seequellenbächlein in Abwasserröhren gefangen und dem ohnedies schon strapazierten Grundwasserkreislauf entzogen.)
Das glasklare Wasser läuft glucksend und munter, wie es sich gehört für ein rechtes Quellflüßchen, im Graben die Mulde entlang, direkt auf die Seelinde zu. Doch schnell wird es müde und nach einigen Dutzend Metern ist’s wieder von der Erdoberfläche verschwunden. Es hat das Loch zum Muschelkalk erreicht, und der ist ja nicht „wasserdicht“. So, jedenfalls, war es noch vor kurzem. Jetzt wird es, wie schon gesagt, von der Betonröhre geschluckt. (…)
Die Seelinde im Spätherbst. Am Horizont (nach Osten) die Sindelfinger Wälder. (Foto: Klaus Philippscheck)
Nun aber wieder zur Seelinde. Auf der geschilderten Schwelle zwischen See und Buchental wurzelt der in seiner Krone 20 Meter ausladende Baum. Sein Standplatz ist der Kreuzungspunkt zweier Wege, die gewiß uralt sind. Der eine kommt vom Dorf her und führt zu den Wiesen und Äckern. Seit das Dorf besteht, wird wohl auch er bestehen. Der andere, Maichingen mit Dagersheim verbindend, ist Teilstück einer einst wichtigen Handelsstraße. Rheinsträßle heißt er heute noch. So nimmt unser Schattenspender eine historische Stelle ein.
Wie alt er wohl ist? Das ist sicher: Die Römer hat er nicht mehr gesehen. Auch Kaiser Otto der Große, der 965 hier (wahrscheinlich) vorüberritt, hat seinen Schatten nicht genossen; auch kein Landsknecht des 30jährigen Krieges und keiner von Melacs Franzosen. Fragen wir alte Darmsheimer! Der Baum sei immer schon so groß gewesen, erfährt man da. Nun, diese Aussage wird wohl auf einer Täuschung beruhen, ein großer Baum ist lange Zeit groß.
Perspektive und Größenempfinden verschieben sich von der Kindheit zum Alter. Bei jetzigen 3,82 Metern Stammumfang kann die Linde vor 60 Jahren 70 Zentimeter in der Dicke gemessen haben, denn einen halben Meter hat sie innerhalb dieser Frist gewiß zugenommen. Aber, auch mit 70 Zentimetern Dicke ist ein freistehender Baum auffällig genug. Linden wachsen kräftig, wenn es ihnen gut geht. Unsere Seelinde sieht nicht so aus, als habe sie je Nahrungsmangel erlitten. Dies alles bedacht, könnten 140 Jahre als angemessenes Alter erscheinen. Beim Forschen in alten Kartenwerken fiel auf, daß in der Urkarte der württembergischen Landesvermessung von 1830 genau dort, wo er heute steht, die Signatur für einen Baum eingetragen ist. Ob sie für die junge Seelinde gilt? Dann wäre sie wenigstens 160 Jahre alt. Oder hatte sie eine Vorgängerin?
Das große Loch zum Durchschauen hat ihr Stamm erst seit einigen Jahren. Es wurde bei einer baumpflegerischen Maßnahme herausgehöhlt. Die Wunde, die ein dicker abgesägter Ast hinterließ, war tief in den Stamm eingefault. Zum Glück wurde unserer Seelinde immerhin nicht ganz so übel mitgespielt, wie ihrer Nachbarin am Quittler. Der Quittlerlinde haben Straßenbauer, angeleitet von Straßenplanern und behördlich überwacht, lebenswichtige Wurzeln bündelweise abgerissen, so dass sie seither dem Siechtum ausgeliefert ist und langsam Jahr um Jahr, dem Tod entgegenstirbt. Von ihrer einst so stolzen Krone ist gerade noch eine armselige Ruine übrig. (…)
Zwei Sitzbänke laden zur Rast an der Seelinde ein. Eine erfrischende Quelle ist nicht fern. Weit erstreckt sich die offene Ackerlandschaft. Die Waldhöhen um Sindelfingen grüßen vom Horizont her. Alles scheint wie geschaffen für den zum Ruhen und Schauen gestimmten Wanderer. Vielleicht findet es ein stilles Viertelstündchen hier, vielleicht auch nicht. Denn nicht selten jagt ein Auto staubaufpeitschend einen der Fahrwege entlang. Ein Rastplatz mag womöglich schon in alten Zeiten hier gewesen sein, eine Grubbank für Lastenträger. Doch wer schleppt heute noch seine Ernte oder Handelsware auf dem Rücken von Ort zu Ort?
Wer auch pflückt noch Blüten für den Tee von der Linde am See? Und doch ist die Zeit noch gar nicht so fern, in der die Linden im Schwippetal, die an der Hornsteige, die Quittler- und die Seelinde zum Lindenblütensammeln verpachtet wurden und der chronisch schwindsüchtigen Gemeindekasse eine Aufbesserung um 30 oder 50 Pfennig einbrachten.
Der kleine See am Seebrunnen; im Hintergrund die Seelinde. (Foto: Klaus Philippscheck)
Erstveröffentlichung: Jahrbuch der Stadt Sindelfingen 1987, S. 304
Der Text wurde gekürzt.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Stadt Sindelfingen